Sonntag, 6. Oktober 2019

Rezension zum "Kin Ping Meh"

...einem klassischen chinesischen Roman, in der Übersetzung von Franz Kuhn, die man ihrerseits schon wieder als Klassiker bezeichnen kann. 

Lohnenswerte Lektüre
Auch wenn dieser Roman keiner der vier kanonischen Klassiker ist, ist er sein Geld wert und auch wenn die Übersetzung von Franz Kuhn stark gekürzt ist (dem Nachwort von Boris Riftin zufolge fast um die Hälfte), bringt sie den Kern des Werkes zur Geltung. Man kann selbst entscheiden, welches Buch man darin sehen will, ein rein pornografisches, bei dem sich die Handlung nur von einer Sexszene zur anderen hangelt oder ein Werk der Sozialkritik, bei dem der Sex nur das Mittel ist, Aufmerksamkeit zu erregen und in Wirklichkeit eine andere Botschaft zu transportieren (Strategem Nummer sechs: „Im Osten lärmen, im Westen angeifen“). In diesem Zusammenhang muss ich Kuhns Kürzungen sogar loben, denn die Sexszenen werden schliesslich langweilig und lenken von der Handlung ab, so zumindest mein Empfinden am Ende von Kapitel 28.

Auch die Heuchelei und Korruptheit der Oberschicht, welche sehr treffend aufgespiesst werden, machen nur einen Teil des Ganzen aus, man lernt nämlich generell das Leben in einer hoch entwickelten urbanen Zivilisation kennen, mit allen Licht- und Schattenseiten. Das erinnerte mich, wenn der Vergleich mit westlichen Autoren erlaubt ist, teilweise an Romane von Balzac und teilweise an den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Hochzeits- und Bestattungsrituale, öffentliche Veranstaltungen, soziale Beziehungen und Schichtungen, Gartenarchitektur, Musikinstrumente und Mode werden beschrieben und man erlebt, wie „das alte China“ uns in vielen Dingen verblüffend ähnlich ist, auch wenn die Oberfläche fremdartig erscheinen mag. 

Hat man sich an den Stil gewöhnt, so kann man sich in die Protagonisten einfühlen und hier bewundere ich den unbekannten Verfasser des Originals. Die Hauptfigur Hsi Men (in heutiger Transkription „Xi Men“) ist ein reicher Wüstling, wird ungeschminkt dargestellt und egal, wie man diesen Charakter beurteilt, so kann man seine Psyche doch vollkommen begreifen. Das Selbe gilt von anderen Personen, etwa die naiv ehrbare „Mondfrau“, die teuflisch böse „Goldlotos“, die zahllosen Nebenfiguren, die m. E. alle realistisch und psychologisch treffend gezeichnet sind. 
Am Beispiel des Haushalts von Hsi Men wird ausserdem aufgezeigt, wie viele Möglichkeiten es gibt, wohin sich Dinge entwickeln können und wie komplex die Welt ist, wodurch Ereignisse eintreten, mit denen niemand gerechnet hat, so dass vermeintliche Sicherheiten oder Gewissheiten sich als Illusion erweisen. 

Den Schluss verrate ich nicht, nur so viel: wer von westlicher Erzähltradition geprägt ist, wird überrascht sein.