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Aufstieg
und Fall der Science Fiction – ein Spaziergang durch das Erbe der
Jahrhunderte
Die
alte Erkenntnis, dass nichts von nichts kommt, gilt auch für die SF.
Märchen und Fabeln hat es zu allen Zeiten der menschlichen Kultur
gegeben und die Forschung streitet bis heute über Ursprünge und
Klassifizierung. Auf diese Debatte lasse ich mich bewusst nicht ein,
sonst sässen wir in tausend Jahren noch hier, sondern es sei nur
grob umrissen, wie wir in diesem Text „Science Fiction“ von
anderen Arten von Geschichten unterscheiden. Eine solche
Unterscheidung ist notwendig, sonst wäre jedes weitere Wort
verschwendet.
Zunächst
liegt es in der menschlichen Natur, eine Zukunft, die kurz bevor
steht, ungefähr die nächsten fünf bis zehn Jahre, nicht mehr als
„Zukunft“ zu betrachten, sondern nur als eine leicht veränderte
Gegenwart. SF erfordert also eine Epoche, die mindestens einige Jahrzehnte
voraus liegt, plus Wissenschaft plus Technik. Sie muss zeigen, wie in
dieser Zukunft durch Fortschritte in Wissenschaft und Technik die
Dinge anders werden, wie Probleme anders gelöst werden, wie sich die
Lebensweise verändert usw., sei dies nun zum Guten oder zum
Schlechten.
Daraus
ergibt sich auch die Negativabgrenzung, was SF nicht ist: Es
darf keine Magie zum Einsatz kommen, es darf nicht nur die Gegenwart
mit einigen Gadgets aufgepeppt werden, sondern man muss sich der
Tatsache stellen, dass eine neue Technik auch die restliche Welt
verändert. Demnach ist also Jules Verne keine SF, ausgenommen sein
Spätwerk „Paris im 20. Jahrhundert“ und „Star Wars“ ist auch
keine.
Der
Cyberpunk dagegen ist SF, weil er radikal mit der Welt der Gegenwart
bricht und davon ausgeht, dass um das Jahr 2050 die USA nicht mehr
existieren, „Menschen“ im heutigen Sinne bestenfalls die Ausnahme
sein werden usw.; Ähnliches gilt für Frank Herberts
„Dune“-Universum.
Um
nun zu illustrieren, wie sich die SF aus älteren Formen des
Geschichtenerzählens entwickelte, besuchen wir eine fiktionale
Gegend, die aber keine „wissenschaftliche Fiktion“ ist. Der Text
kursiert seit Jahrhunderten in verschiedenen Fassungen:
Das
Schlaraffenland
Hört
zu, ich will euch von einem guten Lande sagen, dahin würde mancher
auswandern, wüsste er, wo es liegt und hätte eine gute
Schiffgelegenheit. Diese schöne Gegend heisst Schlaraffenland.
Da
sind die Häuser gedeckt mit Eierfladen, und Türen und Wände sind
von Lebkuchen und die Balken von Schweinebraten. Was man bei uns für
einen Dukaten kauft, kostet dort nur einen Pfennig. Um jedes Haus
steht ein Zaun, der ist von Bratwürsten geflochten und von
bayerischen Würsteln.
Alle
Brunnen sind voll süßer Weine, die rinnen einem nur so ins Maul.
Wer also gerne solche Weine trinkt, der eile sich, dass er in das
Schlaraffenland hineinkomme. Auf den Birken und Weiden, da wachsen
die Semmeln und Brötchen frischbacken und unter den Bäumen fliessen
Milchbäche; in diese fallen Semmeln und Brötchen hinein und weichen
sich selbst ein für die, so sie gern einbrocken. Das ist etwas für
Weiber und Kinder, für Knechte und Mägde! Holla Gretel, holla
Stoffel! Wollt ihr nicht auswandern? Macht euch herbei zum Semmelbach
und vergesst nicht, einen grossen Milchlöffel mitzubringen.
Die
Fische schwimmen in dem Schlaraffenlande obendrauf auf dem Wasser,
sind auch schon gebacken oder gesotten und schwimmen nahe am Gestade.
Wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der darf
nur rufen: Bst – bst!, so kommen die Fische heraus aufs Land
spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand, daß er sich
nicht zu bücken braucht.
Das
könnt ihr glauben, dass die Vögel dort gebraten in der Luft
herumfliegen, Gänse und Truthähne, Tauben und Kapaunen, Lerchen und
Krammetsvögel, und wem es zu viel Mühe macht, die Hand danach
auszustrecken, dem fliegen sie schnurstracks ins Maul hinein. Die
Spanferkel geraten dort alle Jahr überaus trefflich; sie laufen
gebraten umher und jedes trägt ein Messer im Rücken, damit, wer da
will, sich ein frisches saftiges Stück abschneiden kann.
Die
Käse wachsen in dem Schlaraffenlande wie die Steine, groß und
klein; die Steine selbst sind lauter Taubenkröpfe mit Gefülltem
oder auch kleine Fleischpastetchen. Im Winter, wenn es regnet, so
regnet es lauter Honig in süßen Tropfen. Da kann einer lecken und
schlecken, daß es eine Lust ist. Und wenn es schneit, so schneit es
klaren Zucker und wenn es hagelt, so hagelt es Würfelzucker
untermischt mit Feigen, Rosinen und Mandeln.
Im
Schlaraffenland legen die Rosse keine Roßäpfel, sondern Eier,
grosse Körbe voll und ganze Haufen, so daß man tausend um einen
Pfennig kauft. Und das Geld kann man von den Bäumen schütteln wie
Kastanien. Jeder mag sich das Beste herunterschütteln und das minder
Werte liegen lassen.
In
dem Lande gibt es auch grosse Wälder, da wachsen im Buschwerk und
auf den Bäumen die schönsten Kleider, Röcke, Mäntel, Hauben,
Hosen und Wämser von allen Farben, schwarz, grün, gelb, blau oder
rot. Wer ein neues Gewand braucht, der geht in den Wald, und wirft es
mit einem Stein herunter oder schießt mit dem Bolzen hinauf. In der
Heide wachsen schöne Damenkleider von Samt, Atlas, Taft und Seide.
Das Gras besteht aus Bändern von allen Farben. Die Wacholderstöcke
tragen Broschen und goldene Krawattennadeln, und ihre Beeren sind
nicht schwarz, sondern echte Perlen. An den Tannen hängen
Damenuhren, und auf den Stauden wachsen Stiefel und Schuhe, auch
Herren- und Damenhüte und allerlei Kopfputz, mit Paradiesvögeln,
Kolibris, Brillantkäfern, Perlen und Goldborten verziert.
Wer
eine Frau hat, die ihm nicht mehr jung genug und hübsch, der kann
sie dort gegen eine junge und schöne vertauschen und bekommt noch
ein Draufgeld dafür. Die alten und garstigen – denn ein Sprichwort
sagt, wenn man alt wird, wird man garstig – kommen in ein Jungbad,
damit das Land begnadet ist. Das ist von großen Kräften; darin
baden die alten Weiber drei Tage oder höchstens vier, da werden
schmucke Dirnlein daraus von siebzehn oder achtzehn Jahren.
Auch
viel und mancherlei Kurzweil gibt es in dem Schlaraffenlande. Wer
hierzulande gar kein Glück hat, der hat es dort im Spiel und
Luftschießen wie im Gesellenstechen. Mancher schießt hier all sein
Lebtag nebenaus und weit vom Ziel, dort aber trifft er, und wenn er
der allerweiteste davon wäre, doch das Beste. Auch für die
Schlafsäcke und Schlafpelze, die hier von ihrer Faulheit arm werden,
dass sie Bankrott machen und betteln gehen müssen, ist jenes Land
vortrefflich. Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein und
Gähnen jedesmal einen Doppeltaler. Wer im Spiel verliert, dem fällt
sein Geld wieder in die Tasche. Die Trinker haben den besten Wein
umsonst, und von jedem Trunk und Schluck drei Batzen Lohn, sowohl
Frauen als auch Männer. Wer die Leute am besten necken und aufziehen
kann, bekommt jeweils einen Gulden. Keiner darf etwas umsonst tun,
und wer die größte Lüge macht, der hat allemal eine Krone dafür.
Hierzulande lügt so mancher drauf und drein, und hat nichts für
diese Mühe; dort aber hält man Lügen für die beste Kunst. Daher
lügen sich wohl in das Land allerlei Prokura-, Dok- und andere
-toren, Roßtäuscher und Handwerksleute, die ihren Kunden stets
aufreden und nimmer Wort halten.
Wer
dort ein gelehrter Mann sein will, muss auf einen Grobian studiert
haben. Auch muss er dabei faul und gefräßig sein, das sind die drei
schönsten Künste. Solche Studenten gibts auch bei uns zulande,
haben aber keinen Dank davon und keine Ehren. Ich weiß einen, der
könnt dort alle Tage Professor werden.
Wer
gern arbeitet, Gutes tut und Böses läßt, dem ist jedermann dort
abhold, und er wird des Schlaraffenlandes verwiesen. Aber wer
tölpisch ist, gar nichts kann und dabei doch voll dummen Dünkels,
der ist dort als ein Edelmann angesehen. Wer nichts kann als
schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen
ernannt. Dem aber, welchen das allgemeine Stimmrecht als den Faulsten
und zu allem Guten Untauglichsten erkannt, der wird König über das
ganze Land und hat ein großes Einkommen.
Nun
wißt ihr des Schlaraffenlandes Art und Eigenschaft. Wer sich also
auftun und dorthin eine Reise machen will, aber den Weg nicht weiß,
der frage einen Blinden. Auch ein Stummer ist gut dazu, denn der sagt
ihm gewiß keinen falschen Weg. Aber der Weg dahin ist weit für die
Jungen und für die Alten, denen es im Winter zu heiss ist und zu
kalt im Sommer. Noch dazu ist um das ganze Land herum eine berghohe
Mauer von Reisbrei. Wer hier hinein oder heraus will, muss sich da
erst quer hindurchfressen.
Nun
eine lyrische Version von Hans Sachs, dem „Meistersinger“:
Das
Schlaraffenland
Eine
Gegend heißt Schlaraffenland,
den
faulen Leuten wohlbekannt;
die
liegt drei Meilen hinter Weihnachten.
Ein
Mensch, der dahinein will trachten,
muß
sich des großen Dings vermessen
und
durch einen Berg von Hirsebrei essen;
der
ist wohl dreier Meilen dick;
alsdann
ist er im Augenblick
im
selbigen Schlaraffenland.
Da
hat er Speis und Trank zur Hand;
da
sind die Häuser gedeckt mit Fladen,
mit
Lebkuchen Tür und Fensterladen.
Um
jedes Haus geht rings ein Zaun,
geflochten
aus Bratwürsten braun;
vom
besten Weine sind die Bronnen,
kommen
einem selbst ins Maul geronnen.
An
den Tannen hängen süße Krapfen
wie
hierzulande die Tannenzapfen;
auf
Weidenbäumen Semmeln stehn,
unten
Bäche von Milch hergehn;
in
diese fallen sie hinab,
daß
jedermann zu essen hab.
Auch
schwimmen Fische in den Lachen,
gesotten,
gebraten, gesalzen, gebacken;
die
gehen bei dem Gestad so nahe,
daß
man sie mit den Händen fahe.
Auch
fliegen um, das mögt ihr glauben,
gebratene
Hühner, Gäns' und Tauben;
wer
sie nicht fängt und ist so faul,
dem
fliegen sie selbst in das Maul.
Die
Schweine, fett und wohlgeraten,
laufen
im Lande umher gebraten.
Jedes
hat ein Messer im Rück';
damit
schneid't man sich ab ein Stück
und
steckt das Messer wieder hinein.
Käse
liegen umher wie die Stein.
Ganz
bequem haben's die Bauern;
sie
wachsen auf Bäumen, an den Mauern;
sind
sie zeitig, so fallen sie ab,
jeder
in ein Paar Stiefel herab.
Auch
ist ein Jungbrunn in dem Land;
mit
dem ist es also bewandt:
wer
da häßlich ist oder alt,
der
badet sich jung und wohlgestalt't.
Bei
den Leuten sind allein gelitten
mühelose,
bequeme Sitten.
So
zum Ziel schießen die Gäst',
wer
am meisten fehlt, gewinnt das Best;
im
Laufe gewinnt der Letzte allein;
das
Schlafrocktragen ist allgemein.
Auch
ist im Lande gut Geld gewinnen:
wer
Tag und Nacht schläft darinnen,
dem
gibt man für die Stund' einen Gulden;
wer
wacker und fleißig ist, macht Schulden.
Dem,
welcher da sein Geld verspielt,
man
alles zwiefach gleich vergilt,
und
wer seine Schuld nicht gern bezahlt,
auch
wenn sie wär eines Jahres alt,
dem
muß der andere doppelt geben.
Der,
welcher liebt ein lustig Leben,
kriegt
für den Trunk einen Batzen Lohn;
für
eine große Lüge gibt man eine Kron'.
Verstand
darf man nicht lassen sehn,
aller
Vernunft muß man müßig gehn;
wer
Sinn und Witz gebrauchen wollt,
dem
wär kein Mensch im Lande hold.
Wer
Zucht und Ehrbarkeit hätt lieb,
denselben
man des Lands vertrieb,
und
wer arbeitet mit der Hand,
dem
verböt man das Schlaraffenland.
Wer
unnütz ist, sich nichts läßt lehren,
der
kommt im Land zu großen Ehren.
Wer
wüst, wild und unsinnig ist,
grob,
unverständig zu aller Frist,
aus
dem macht man im Land einen Fürsten.
Wer
gerne ficht mit Leberwürsten,
aus
dem ein Ritter wird gemacht;
wer
auf gar nichts weiter acht'
als
auf Essen, Trinken und Schlafen,
aus
dem macht man im Land einen Grafen
und
wer der Faulste wird erkannt,
derselbige
ist König im ganzen Land.
Wer
also lebt wie obgenannt,
der
ist gut im Schlaraffenland,
in
einem andern aber nicht.
Drum
ist ein Spiegel dies Gedicht,
darin
du sehest dein Angesicht.
Das
Gedicht moralisiert, wie auch der Prosatext die Idee verspottet, denn
beide wollen dem Publikum die Unmöglichkeit einer solchen Welt
aufzeigen und es zur Bescheidenheit ermahnen. In Wirklichkeit jedoch
haben sie das Gegenteil erreicht, weil die Menschen sich in die Idee
dieses endlosen Luxus verliebten, ähnlich wie es in Rumänien unter
Ceaucescu geschah. Der Diktator brachte „Dallas“ ins Fernsehen,
um seinem Volk eine abschreckende Vorstellung vom Kapitalismus zu
geben, stattdessen aber wurden die Menschen gierig nach dieser
dekadenten westlichen Welt, die man ihnen vorenthielt. Es scheint,
dass weder der alte Sachs noch Ceaucescu Psychologen gewesen sind,
denn Menschen mögen es nicht, einen Mangel zu empfinden und suchen
ihm abzuhelfen, ohne Rücksicht auf Gesetz und Moral.
Von
daher nimmt es nicht wunder, dass spätestens in den
Kinderbuch-Versionen wie etwa „Mecki im Schlaraffenland“ aus den
1950ern jegliche belehrende Absicht fehlt und nur noch ein Stück
harmlose Unterhaltung übrig bleibt. Die Literaturforschung hat
ausserdem darauf hingewiesen, dass die älteren Geschichten über das
Schlaraffenland an einem Punkt unlogisch sind, denn wozu braucht man
noch Geld, wenn es alle materiellen Güter umsonst gibt? Die Moderne
hat folgerichtig auch das Geld weggelassen.
Es
ist für das Denken der Menschheit bezeichnend, dass alle derartigen
Träume, vom Schlaraffenland bis Star Trek, dem selben Muster folgen:
ein grenzenloser materieller Überfluss eliminiert alle
Wirtschaftsformen der Vergangenheit, denn wo keine Mängel
existieren, kann keine Wirtschaft entstehen, die Zukunft ist kein
„Super-“, „Turbo-“ oder sonstiger Kapitalismus, sondern auch
dieser erweist sich nur als Übergangsform und wird ersetzt durch
Funktionsabläufe, in die der Mensch gar nicht mehr eingreift und
nicht eingreifen darf, weil seine Schwächen und Fehler alles kaputt
machen würden.
Einen
derartigen Zustand hat man mit Recht „märchenhaft“ genannt und
die dazu nötige technische Perfektion ist buchstäblich
„un-menschlich“, ist „mechanistisch“, „maschinenhaft“
oder, wie wir es seit Karol Capeks einmalig genialer Wortschöpfung
von 1922 nennen, robotisch.
Das
bedeutet natürlich auch, dass die Menschen die Kontrolle verlieren
und davor fürchten sie sich oder zumindest wird es als beängstigend
ausgemalt. In Wirklichkeit läuft es immer darauf hinaus, dass wir
uns mit der Veränderung arrangieren. Die einen bekämpfen sie, die
anderen verteidigen sie und während sich beide Seiten noch
gegenseitig zerfleischen, liegt der Fortschritt längst ausserhalb
der Debatte und beeinflusst die Menschen auf eine nicht vorhersagbare
Weise, bis er schliesslich zu einem Teil des „normalen“ Lebens
wird.
Einige
Beispiele:
-
Es ist heute Konsens, dass 1987 Computer einen Börsencrash
verursacht und Millionenwerte vernichtet hätten, aber selbst wenn
das wahr wäre, haben wir danach etwa die Computer abgeschafft?
-
Die bemannte Raumfahrt erlebte seit den 1960ern Unglücke und
Todesfälle, die in allen grausamen Details bekannt gemacht wurden.
Hat das zum Ende der Raumfahrt geführt?
-
Hat der Untergang der „Titanic“ im Jahr 1912 die Verwendung von
Schiffen gestoppt?
-
Hat das päpstliche Verbot der Armbrust im 14. Jahrhundert die
Verwendung dieser Waffe beendet?
-
Hat man im Jahr 1720 nach dem Desaster des Mississippi-Schwindels in
Frankreich und des gleichzeitigen South-Sea-Blubble in England das
Papiergeld wieder abgeschafft?
-
Und Aids, diese Pest der Moderne, hat sie es vermocht, ungeschützten
Sex zu eliminieren?
In
jedem dieser Punkte haben wir entweder die Kontrolle verloren oder
wir hatten sie niemals und trotzdem geht das Leben weiter. Menschen
können sich nicht immer nur fürchten, irgendwann vergessen sie ihre
Angst auch wieder und spätere Generationen belächeln sie sogar.
Diese
beiden Elemente, das menschliche Bedürfnis, Geschichten zu erzählen
und die Neigung, Neues allmählich zu integrieren, führten dazu,
dass auch Geschichten über Wissenschaft und Technik entstanden. Jean
Pauls „Der Maschinenmann“ aus dem Jahre 1796, als Satire auf den
Fortschrittsglauben seiner Epoche gedacht, skizziert vieles als
absurde Übertreibung, was im 20. und 21. Jahrhundert realisiert
wurde und ist die früheste literarisch fassbare Vision eines
„mechanischen Schlaraffenlands“, in dem die Maschinen übernehmen,
was man zuvor von der Magie erwartete oder gar nicht zu erklären
suchte, sondern sich „einfach so“ wünschte – und im Gegensatz
zu Magie oder Religion, die sich nur selbst in die Tasche lügen,
funktionierte die Technik auch in der wirklichen Welt.
Es
muss für die Denker jener Epoche eine erschütternde Erfahrung
gewesen sein, dass althergebrachte Grenzen, die man für unverrückbar
gehalten hatte, plötzlich nicht mehr existierten und das Neue zu
verspotten, ist eine häufige Reaktion, aus der Welt schaffen kann
man es damit freilich nicht. Während der Schriftsteller noch seinen
bissigen Witz von der Leine liess, gab es draussen in der
Wirklichkeit Versuche, mit diesem neumodischen Ding namens
Dampfmaschine ein Fahrzeug anzutreiben! „Unmöglich“, rief die
gelehrte Welt, denn Wagen ohne Zugtiere, ja sogar Schiffe ohne Segel,
wie sollte das jemals funktionieren?
In
der Welt jenseits der Studierstuben jedoch erfüllte sich das Wort
Leonardo da Vincis „Es wird
Wagen geben, die von keinem Tiere gezogen werden und die mit
ungeheurer Gewalt daherfahren.“ Die Folgen für das Denken der
nächsten Generation illustriert Hans Christian Andersen, der unter
seinen Märchen auch eines mit dem Titel „In Jahrtausenden“
verfasste. „Ja, in Jahrtausenden kommen sie auf den Flügeln des
Dampfes durch die Luft über das Weltmeer...“, fabuliert er um das
Jahr 1835 und führt uns vor, was man damals der Dampfkraft an
Möglichkeiten zutraute.
Beide
Geschichten sind heute bei „gutenberg.spiegel.de“ gratis zu haben
und solche Ideen bereiteten den Boden für Jules Vernes
„naturwissenschaftlichen Unterhaltungsroman“ ab dem Jahr 1863,
der ja nicht immer fiktionale Elemente enthält. Man lese z.B. „Die
Kinder des Kapitän Grant“, der dem Boden der zeitgenössischen
Technik bleibt, ebenso wie „Der Kurier des Zaren“ oder „Der
Grüne Strahl“; auch seine Fiktionen sind ganz im Stil des 19.
Jahrhunderts gehalten, so wird etwa die Reise zum Mond mit einem
damals erst kürzlich erfundenen Treibmittel namens
„Schiessbaumwolle“ angetreten und die „Nautilus“ wie die
„Propellerinsel“ beruhen auf einer Kombination aus geschmiedetem
Stahl, Zahnrädern, Ventilen, Schrauben und frühen Elektrogeräten –
alles Dinge, die man auch auf einem zeitgenössischen Bahnhof
beobachten konnte.
Richtig
in die Vollen geht dagegen Kurd Laßwitz, heute fast vergessen, ab
dem Jahre 1877. Er ist ein ganz anderes Kaliber als Verne, denkt die
Möglichkeiten technischer und wirtschaftlicher Entwicklung so weit
wie damals überhaupt möglich, ist daher in seiner „Trefferquote“
einsame Spitze und leitet über zu Leuten wie H. G. Wells, Hans
Dominik, Isaac Asimov und Stanislaw Lem, die die Realisierung ihrer
Ideen vielfach noch erlebten.
Es
ist angesichts dessen oft behauptet worden, dass die klassischen
SF-Autoren jede zukünftige Entwicklung vorausgesehen hätten, doch
muss man dies im richtigen Zusammenhang sehen, denn noch viel mehr
Voraussagen sind nicht eingetroffen.
Wirklich
geschehen ist Folgendes: Es wurde nach allen denkbaren Richtungen hin
spekuliert und experimentiert und jede noch so absurd erscheinende
Idee verfolgt, so dass rein statistisch ein paar Treffer dabei sein
mussten. Das hat nichts mit Hellseherei zu tun, sondern mit langer,
mühseliger Arbeit, mit Datensammeln und anstrengendem, bisweilen
frustrierendem Denken und Diskutieren, bis man meinte, einen
gangbaren Weg gefunden zu haben, immer mit dem Risiko, etwas später
doch noch enttäuscht zu werden.
Die
Irrtümer unterteilen sich in zwei Gruppen:
a)
Einzelne Punkte, die von falschen Voraussetzungen ausgingen und daher
nicht eintreffen konnten. Darunter fallen Ausserirdische, wobei man
jedesmal stillschweigend „hoch entwickelte Zivilisation“
hinzufügt, Mutanten mit Superkräften, positronische und
duotronische Computer.
-
Ausserirdische existieren nicht, das wissen wir inzwischen, weil wir
das ganze Universum durchsucht haben bis zu den ältesten und am
weitesten entfernten Sternen und überall nur Leere fanden.
Exoplaneten gibt es in rauhen Mengen und sogar in vielfältigeren
Formen, als man erwartete, aber sie sind alle ohne Leben, ausser
vielleicht in den primitivsten Formen wie Bakterien. Wohlgemerkt, die
Existenz höherer Lebensformen verstösst nicht gegen die
Naturgesetze, sondern es sind nur keine da, was die schon oft
gemachte Beobachtung bestätigt, dass „möglich“ nicht gleich
„existent“ ist.
-
Superfähigkeiten, die sich aufgrund genetischer Mutationen
herausbilden sollten, kann es der Sache nach nicht geben, weil
biologisches Leben dazu nicht fähig ist.
-
Positroniken wurden seit 1940 von Asimov postuliert, weil er nicht
genug über Antimaterie wusste, um zu begreifen, dass diese Idee
nicht funktioniert. Mit dem Wissen der 1980er sahen wir darin klar.
-
„duotronische Computertechnik“ und „isolineare Chips“ sind
nur leere Formeln, mit denen man in Star Trek Fortschritte des 23.
bzw. 24. Jahrhunderts simulierte.
b)
Komplexe Szenarien, bei denen die Utopie aufgrund unvorhergesehener
Einflüsse extrem von der Realität abweicht. Die Autoren des 19.
Jahrhunderts gehen von einer Kontinuität politischer und sozialer
Systeme aus – das viktorianische England, wilhelminische
Deutschland, die Belle Epoque Frankreichs – denen dann die Technik
der Zukunft zur Verfügung stehen soll. Ähnlich verhalten sich Kino
und Fernsehen bis in die 1950er, in deren Zukunftsvorstellungen z.B.
Buck Rogers noch immer der amerikanische Musterknabe ist und eine
weibliche Emanzipation nicht stattgefunden hat.
In
der wirklichen Welt ist es anders gelaufen, weil neue Technologien zu
neuen Informations-, Produktions- und Transportmethoden führten, die
ganze Wirtschaftszweige eliminierten, neue entstehen liessen und
soziale Umwälzungen ermöglichten. Alle diese Entwicklungen sind
vielfach miteinander verflochten und haben dazu beigetragen, eine
Welt zu erschaffen, die vor ihrer Entstehung nicht denkbar war.
Die
SF passte sich wie alle Kulturerzeugnisse dem nur schrittweise an,
noch der berühmte Kuss zwischen Kirk und Uhura sorgte in den 1960ern
für rassistischen Aufruhr und die Technik ist mittlerweile dermassen
weit fortgeschritten, dass nicht nur Verne und Laßwitz, sondern auch
Wells, Dominik, Asimov und viele andere überholt, ganze
Ereignisketten in den alten Romanen ad absurdum geführt wurden. Die
„Quellen des Nils“, für Vernes Helden im Jahre 1863 noch ein
Rätsel, waren schon im Atlas des 20. Jahrhunderts ebenso zu finden
wie heute in der Wikipedia, den Mond haben wir wiederholt mit
Menschen wie mit Maschinen besucht und er hat auch auf der Rückseite
keine Atmosphäre (damit ist also Verne widerlegt und Dominik
bestätigt), bei den Nachbarplaneten Mars und Venus mussten wir schon
den Maschinen allein den Vortritt lassen, weil sie im All besser
zurechtkommen (sie brachten uns u.a. die enttäuschende Erkenntnis,
dass die Venus kein riesiger Tropenpark ist, sondern eine
kochende Hölle und die „Marspyramiden“ eine natürlich
entstandene Formation); die „Stratosphärenflugzeuge“ Professor
Eggerths könnten in einer Welt voller Radar niemals ungestört
schalten und walten, ja sie könnten wie auch die genialen
Flugmaschinen eines Robur nicht einmal unbemerkt gebaut werden; die
Gier nach Gold führte zu einer gezielten Suche im All, anstatt auf
den zufälligen Absturz eines goldhaltigen Meteoriten zu warten; die
„Zukunftskriege“ sind ausgefochten; Kapitän Nemo hat reale
Nachfolger gefunden, die sich nicht von der Menschheit losgesagt
haben, sondern ihr verbunden bleiben und ihre Erkenntnisse über die
Welt unter Wasser in wunderbaren Dokumentationen zur Verfügung
stellen – kurz, die Phantasie wurde von der Realität auf ganzer
Länge geschlagen. Wir bewundern wohl noch die Hellsichtigkeit der
alten Meister in vielen Details, aber zukunftsweisend sind sie nicht
mehr.
Zur
Illustration des selben Ergebnisses von einem anderen Ausgangspunkt
haben wir hier noch einige Fundstücke aus dem Internet, die nicht
als SF verfasst wurden, sondern, vom jeweiligen Zeitwissen ausgehend,
einen ernsthaften Blick in die Zukunft versuchten [Meine Kommentare
in eckigen Klammern].
Ein
Artikel aus der „Pressburger Zeitung“ vom 22. März 1922
Fortschritte,
die man voraussehen kann
In
78 Jahren wird man das Jahr 2000 schreiben. Da die Statistik besagt,
dass von sieben Neugeborenen einer hoffen kann, bis zu 78 Jahren zu
leben, so gibt es in den Städten und Dörfern der ganzen Welt junge
Menschlein, die dieses Datum sehen werden, das für die Erwachsenen
von heute von mystrichem Glanz umgeben ist.
Wie
wird das Jahr 2000 sein?, fragt Paul Louis Hervier im "Figaro".
Das Jahr 1000 war durch eine Weltpanik gekennzeichnet. Das Jahr 2000
wird nur die Apotheose des Fortschritts kennen [Irrtum, der
Fortschritt hat immer seine Kritiker, denn so sind die Menschen].
In
78 Jahren werden die Wunder unserer Epoche Kinderspielzeuge scheinen
[richtig]. Unsere Luftschifffahrt, unsere Unterseeboote, die noch zu
Zeiten Jules Vernes Träume und Utopien waren, werden sicherlich
Verbesserungen erfahren haben, die aus ihnen bequeme Verkehrsmittel
für alle Welt machen, insofern nicht noch einfachere Mittel erfunden
würden [richtig]. Im Jahre 2000 werden unsere wunderbaren
Lokomotiven, die uns heute als mächtige Monstren erscheinen, ebenso
unmodern sein wie die alte Postkutsche unserer Ahnen. Die Züge
werden nunmehr elektrisch geführt werden [richtig]. Die Maschinen
aller Fabriken werden durch Elektrizität betrieben werden, man wird
alle Wasserfälle der Erde eingefangen haben, vielleicht auch die
Kraft des Windes, zweifellos die von Ebbe und Flut [hier war der
Ablauf genau umgekehrt, die Nutzung von Wasser- und Windkraft auf dem
Festland ist allgemein, Gezeitenkraftwerke dagegen noch im
Versuchsstadium], man wird vielleicht die Möglichkeit haben, der
Luft die Elektrizität zu entnehmen, die sich in ihr befindet
[falsch, diese Möglichkeit wurde wegen mangelnder Effizienz nicht
umgesetzt. Statt dessen setzte man auf die 1922 noch nicht
vorstellbaren Kräfte des Atoms und der Solarzelle, besonders die
Letztere machte atmosphärische Kraftwerke überflüssig, weil sie
die Energie der Sonne direkt aufnimmt, ohne dafür jene riesigen, in
der Luft schwebenden Konstruktionen zu brauchen, wie sie Hans Dominik
in seinem Roman „Himmelskraft“ so plastisch ausmalte. Dominik
wurde übrigens noch in einem anderen Punkt überholt, denn er führte
in diesem Buch Haltekabel mit einer „Zerreisslänge“ von 100
Kilometern als das maximal Realisierbare an, aber der neue Werkstoff
„Graphen“, 2004 kreiert, bringt es auf über tausend und schlägt
damit die kühnsten Träume der Materialforscher wie auch der
SF-Autoren].
Ein
Gelehrter sieht voraus, dass man in absehbarer Zukunft Möbel aus
einem von Nickel herstammenden Metall – dem „Nickelum“ –
verfertigen wird, und dieses Metall wird so leicht sein dass man
einen Kasten so bequem verschieben wird können wie heute einen
Stuhl, und so wenig kostspielig, dass solche Möbel jedem zugänglich
sein werden, so reinlich, dass auch die Hygiene dabei in vollstem
Maße, mehr als bisher, berücksichtigt werden wird [überflüssig,
weil wir heute andere Materialien besitzen, die billiger sind]. In
den Wohnungen wird alles elektrisch sein, die Küche, der
Kochapparat, das Waschen des Geschirrs, und die menschliche
Handleistung wird auf ein Minimum reduziert sein. Eine
Dienstbotenkrise wird es nicht geben [paradox: heute ist alles
elektrisch und das in grösserem Ausmass als geahnt, aber dennoch
mangelt es weltweit nicht nur an Dienstboten, sondern allgemein an
Arbeitskräften].
Ein
amerikanischer Verleger sieht eine grosse Verbesserung in der
Ausstattung der Bücher voraus. Nach ihm wird man Blätter aus Nickel
fabrizieren, die so leicht und dünn sein werden, dass ein einziger
Band 30.000 Seiten enthalten wird, die biegsamer, aber auch
widerstandsfähiger sein werden als die Papierseiten [falsch, weil
durch die Digitalisierung überflüssig]. Ein anderer amerikanischer
Fabrikant ist überzeugt, dass ein Anzug von einer Maschine, die aufs
Genaueste durch Elektrizität dirigiert wird, zugeschnitten, genäht
und mit Knöpfen versehen werden wird [in heutigen Begriffen ein
robotischer Schneider, das ist überholt durch die Möglichkeit,
Kleidung im 3D-Drucker herzustellen, vorausgesetzt, dass es rentabel
wäre].
Nach
der Statistik wird, wenn die Zunahme der Bevölkerung in den grossen
Städten in demselben Prozentsatz erfolgt wie bisher, im Jahre 2000
London vierzehn Millionen Einwohner haben und Paris neun Millionen
[stimmt nur, wenn man die verwaltungsrechtlich nicht zur Stadt
gehörenden Vorstädte mitzählt]. Die Strassen werden mit "Nickelum"
gepflastert sein, da dieses Metall härter, dauerhafter sein und den
Strassenlärm besser dämpfen wird als Kautschuk [falsch, es
entstanden statt dessen andere Beläge]. Die Luft der grossen Städte
wird besser sein, der Rauch der Fabriken existiert nicht mehr
[richtig]. Man wird mittels unterirdischer rollbarer Trottoirs oder
gar Wägelchen, die in pneumatischen Röhren fortbewegt werden, seine
Besorgungen machen [falsch]. Die Kohle wird ihren grossen Wert
verloren haben [falsch, wenn man damit ihre Bedeutung meint; richtig,
wenn man nur den Preis meint]. Man wird sich hauptsächlich von
synthetischen Produkten ernähren [in der Praxis kam es zu einer
Verschmelzung von Synthetischem und natürlich Gewachsenem, wodurch
eine Unterscheidung sinnlos wurde].
Ein
englischer Gelehrter meint, dass man vom Boden nicht bloss Gemüse
und Früchte, nicht bloss fette Weiden und fruchtbare Felder, sondern
auch eine unerschöpfliche Quelle von Wärme und Energie haben wird.
Es würde genügen, meint er, einen Schacht von einigen Kilometern zu
graben, um darin die für alle Industrien notwendige Wärme zu
finden. Das Wasser würde in dieser Tiefe eine solche Temperatur
haben, dass man damit alle Maschinen der Welt betreiben könnte [das
war aufgrund geologischer Gegebenheiten nicht ganz so einfach, ist
aber in der Sache zutreffend. Auffällig wirkt jedoch, dass diese
Nutzung geothermaler Energie, wie wir es heute nennen, damals noch
als Zukunft behandelt wurde, obwohl das geothermale Kraftwerk von
Larderello in Italien schon seit 1905 in Betrieb ist, gar nicht zu
reden von der Jahrtausende alten Nutzung natürlicher heisser Quellen
in aller Welt. Der Verfasser dieses Artikels scheint also einige
Dinge nicht gewusst zu haben.].
Und
das sind nur die Fortschritte, die wir voraussehen können! Wie viel
wird sich auf Gebieten zeigen, um die man sich heute gar nicht
kümmert!
Kommentar:
Der letzte Absatz ist der klügste. Unzählige Details wie auch
grosse Dinge sind in diesem Text nicht einmal angedeutet. Wieder
zeigt sich, dass nicht die Technik oder gar die Naturgesetze den
Fortschritt begrenzen, sondern nur die menschliche Blindheit.
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Eine
Satire aus den 1930ern
Hermann
Kasack [Pseudonym?]
Mechanischer
Doppelgänger
„Ein
Herr wünscht Sie zu sprechen“, meldete die Sekretärin. Ich las
auf der Besuchskarte: Tobias Hull, B. A. – Keine Vorstellung. Auf
meinen fragenden Blick: „Ein Herr in den besten Jahren, elegant.“
Anscheinend
ein Ausländer. Immer diese Störungen. Irgendein Vertreter. Oder?
Was weiß man. – „Ich lasse bitten.“
Herr
Tobias Hull tritt mit vorsichtigen Schritten ein. Er setzt Fuß vor
Fuß, als fürchte er, zu stark aufzutreten. Ob er leidend ist? Ich
schätze sein Alter auf Mitte vierzig. Eine große Freundlichkeit
strahlt aus seinem glattrasierten, nicht unsympathischen Gesicht.
Sehr korrekt angezogen, beinahe zu exakt in seinen verbindlichen
Bewegungen, scheint mir. Nun, man wird sehen. Mit der Hand zum Sessel
weisend: „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
„Oh!
Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.“
„Sehr
angenehm“, sage ich.
„Oh!
Sie verstehen!“ Dieses mit einem leicht jaulenden Ton vorgebrachte
Oh! ist unnachahmlich. Seine müde, etwas monotone Stimme hat einen
kleinen fremden Akzent. Er sieht mich mit freundlicher Erwartung an.
Über
das Benehmen seines Besuches doch ein wenig erstaunt, wiederhole ich:
„Sehr angenehm. Aber darf ich Sie fragen –“
Da
werde ich sogleich mit seinem „Oh!“ unterbrochen: „Bitte fragen
Sie mich nicht.“
Und
dann beginnt er, seine Geschichte zu erzählen, die er anscheinend
schon hundertmal vorgebracht hat: „Ich bin nämlich ausgestopft!“
„Aber
– erlauben Sie mal!“
Das
eigentümliche Wesen, das mich überlegen fixiert, beachtet den
Einwurf nicht, sondern fährt unbeirrt fort: „Erschrecken Sie
nicht, weil ich eine Art Automat bin, eine Maschine in Menschenform,
ein Ersatz sozusagen. Mr. Tobias Hull existiert wirklich. Der Chef
einer großen Fabrik zur Herstellung von mechanischen Doppelgängern.
Ich bin, wie sagt man, seine Projektion, ja, Agent in Propaganda. Ich
kann Ihnen natürlich meinen Mechanismus im einzelnen nicht erklären
– Sie verstehen: Fabrikationsgeheimnis! Aber wenn Sie daran denken,
daß die meisten Menschen heutzutage ganz schablonenmäßig leben,
handeln und denken, dann werden Sie sofort begreifen, worauf sich
unsere Theorie gründet! Herz und Verstand werden bei uns
ausgeschaltet. Sie sind es ja, die im Leben so oft die störenden
Komplikationen hervorrufen. Bei uns ersetzt die Routine alles. Sehr
einleuchtend, nicht wahr?“
Ich
nickte verstört.
„Oh!
Mein Inneres ist ein System elektrischer Ströme, automatischer
Hebel, großartig! Eine Antennenkonstruktion, die auf die feinsten
Schwingungen reagiert. Sie läßt mich alle Funktionen eines
menschlichen Wesens verrichten, ja, in gewisser Weise noch darüber
hinaus. Sie sehen selbst, wie gut ich funktioniere.“
Zweifelnd,
mißtrauisch betrachte ich das seltsame Geschöpf. „Unmöglich!“
sage ich. „Ein Taschenspielertrick. Sehr apart. Indessen –“
„Oh!
Ich kann mich in sieben Sprachen verständigen. Wenn ich zum Beispiel
den obersten Knopf meiner Weste drehe, so spreche ich fließend
englisch, und wenn ich den nächsten Knopf berühre, so spreche ich
fließend französisch, und wenn ich – “
„Das
ist wirklich erstaunlich!“
„Oh!
In gewisser Weise; vor allem aber angenehm. Wünschen Sie ein
Gespräch über das Wetter, über Film, über Sport? Über Politik
oder abstrakte Malerei? Fast alle Themen und Vokabeln des modernen
Menschen sind in mir vorrätig. Auch eine Spule von Gemeinplätzen
läßt sich abrollen. [Genau diese Fähigkeit haben heutige
Maschinen, die permanent drahtlos vernetzt sind!] Alles sinnreich,
komfortabel und praktisch. Wie angenehm wird es für Sie sein, wenn
Sie sich erst einen mechanischen Doppelgänger von sich halten –
oder besser, wenn Sie gleich zwei Exemplare von sich zur Verfügung
haben.
Sie
könnten gleichzeitig verschiedene Dienstreisen unternehmen, an
mehreren Tagungen teilnehmen, überall gesehen werden und selber
obendrein ruhig zu Hause sitzen. Sie haben einen Stellvertreter Ihres
Ich, der Ihre Geschäfte wahrscheinlich besser erledigt als Sie
selbst. Sie werden das Doppelte verdienen und können Ihre eigene
Person vor vielen Überflüssigkeiten des Lebens bewahren. Ihr Wesen
ist vervielfältigt. Sie können sogar sterben, ohne daß die Welt
etwas davon merkt. Denn wir Automaten beziehen unsere Existenz aus
jeder Begegnung mit wirklichen Menschen.“
„Aber
dann werden ja die Menschen allmählich ganz überflüssig.“
„Nein.
Aus eben diesem Grunde nicht. Zwei Menschenautomaten können mit sich
selber nur wenig anfangen. Haben Sie also einen Auftrag für mich?“
Mit
jähem Ruck sprang das Wesen auf und sauste im Zimmer hin und her.
„Oh!
Wir können auch die Geschwindigkeit regulieren. Berühmte Rennfahrer
und Wettläufer halten sich schon Doppelgänger-Automaten, die ihre
Rekorde ständig steigern.“
„Phantastisch!
Man weiß bald nicht mehr, ob man einen Menschen oder einen Automaten
vor sich hat.“
„Oh!“,
zischte es an mein Ohr, „das letzte Geheimnis der Natur werden wir
nie ergründen. – Darf ich also ein Duplikat von Ihnen herstellen
lassen? Sie sind nicht besonders kompliziert zusammengesetzt, das ist
günstig. Das hineingesteckte Kapital wird sich bestimmt rentieren.
Morgen wird ein Herr kommen und Maß nehmen.“
„Die
Probe Ihrer Existenz war in der Tat verblüffend, jedoch –“ Mir
fehlten die Worte und ich tat so, als ob ich überlegte.
„Jedoch,
sagen Sie nur noch: Der Herr, der morgen kommen soll, ist das nun ein
Automat oder ein richtiger Mensch?“
„Ich
nehme an, noch ein richtiger Mensch. Aber es bliebe sich gleich.
Guten Tag.“
Mr.
Tobias Hull war fort. Von Einbildung kann keine Rede sein, die
Sekretärin ist mein Zeuge. Aber es muß diesem Gentlemangeschöpf
unmittelbar nach seinem Besuch bei mir etwas zugestoßen sein, denn
weder am nächsten noch an einem späteren Tage kam jemand, um für
meinen Doppelgänger Maß zu nehmen. Doch hoffe ich, wenigstens durch
diese Zeilen die Aufmerksamkeit der Tobias-Hull-Gesellschaft wieder
auf meine Person zu lenken.
Denn
eines weiß ich seit jener Unterhaltung gewiß: ich bin inzwischen
vielen Menschen begegnet, im Theater und im Kino, bei Versammlungen
und auf Gesellschaften, im Klub und beim Stammtisch, die bestimmt
nicht sie selber waren, sondern bereits ihre mechanischen
Doppelgänger.
Kommentar:
Satire? Zum Zeitpunkt, als es verfasst wurde, mit Sicherheit, aber
heute, nur etwa 80 Jahre später, ginge der selbe Text als nüchterne
Prognose durch, abgesehen von dem hoffnungslos blödsinnigen „das
letzte Geheimnis der Natur werden wir nie ergründen“, denn wie
auch immer man dieses „Geheimnis“ definieren mag, wir haben es
ergründet.
Von
der Technik erzeugte Doppelgänger nennen wir heute Avatare und die
aktuellen „Telepräsenzroboter“ sind der erste Schritt, ihnen
auch physische Realität zu geben. Nur über den Grad an gewünschter
Autonomie streiten wir noch und über die daraus entstehende Frage,
wer für die Handlungen eines Roboters verantwortlich gemacht werden
kann. Der Hersteller? Der Käufer (juristisch „Eigentümer“)? Der
tatsächliche Nutzer (juristisch „Besitzer“)?
Diese
Definitionen stammen aus einer Welt ohne Roboter, sind sie heute noch
ausreichend? Kann man z.B. von „Besitz“ sprechen, der als
„tatsächliche Herrschaft über eine Sache“ definiert wird, wenn
die Maschine eigene Entscheidungen trifft? Wenn der Mensch, ganz
gleich, was er will, gar nicht eingreifen kann?
Nebenbei
zeigt sich in dieser Veränderung der Debatte, wie sich die
Einstellung gegenüber Robotern geändert hat. Der Text artikulierte
noch Ängste, die mit der Vorstellung autonom agierender Maschinen
verknüpft waren und diese Ängste wurden bis in die Gegenwart immer
wieder von neuem ausgegraben, heute jedoch ist es unser Wunsch, diese
Vorstellung zu realisieren und bis es soweit ist, verschlingen wir
gierig jede Fiktion über das Thema und kaufen jede Maschine, die
auch nur eine Annäherung darstellt.
Dabei
braucht man nicht unbedingt einen „Doppelgänger“. So sehr diese
Idee des Langen und Breiten ausgewalzt wurde, meistens in der Form,
dass ein finsterer Schurke seine Opfer kopiert, um fürchterlich
finstere Schurkenzwecke zu erreichen, in der Praxis erscheint es viel
zu kompliziert. Der Aufwand, den man dabei betreiben müsste, ist so
gross, die Steuerung des Ganzen so diffizil, dass man das nötige
Geld sinnvoller für Bestechungen verwenden könnte.
Ausserdem
lässt sich generell fragen, wozu man den Aufwand betreiben sollte,
denn wenn man erst einmal über eine solche Macht verfügt, dann kann
man ohnehin von den Maschinen alles bekommen, was sich nur vorstellen
lässt. Wozu noch Verbrecher sein?
Auch
jemand, der keiner ist, braucht nicht zwangsweise eine mechanische
Kopie von sich selbst. Wir wollen, dass unsere Roboter anders sind,
nämlich besser als wir, damit sich die Sache auch lohnt. Sie werden
stärker, schneller, attraktiver sein, mehr können und mehr leisten
als wir und endlich ist, wie schon etliche Leute ausgeführt haben
und wie es die moderne Prothetik beweist, eine strikte Trennung
zwischen Mensch und Maschine Unsinn. Beide verschmelzen und damit
löst sich der Konflikt auf klassische Weise: These – Antithese –
Synthese.
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Ein
Artikel aus der „HörZu“, 1950
Was
unsere Kinder von Wissenschaft und Technik zu erwarten haben
In
atemberaubenden Tempo entwickeln sich Wissenschaft und Technik. Wohin
wird dieser Kurs führen? Was wird in 50 Jahren sein? Im Jahre 2000?
Eine Antwort auf diese Frage kann nur bedingt richtig sein. Wir
müssen von den Erkenntnissen unserer Tage ausgehen. Aber wir wissen
nicht, ob das gegenwärtige Tempo anhält [es hat sich noch
gesteigert]. Was hier geschildert wird, gehört jedenfalls nicht ins
Reich der Phantasie. Wir nehmen an, daß Wissenschaft und Technik in
ihrer heutigen Form sich folgerichtig weiterentwickeln. Hier die
Ansichten des bekannten englischen Schriftstellers Walter Shepberg zu
diesem Thema [Lüge, da es einen derartigen Mann nie gegeben hat; der
Text wurde in Wahrheit von einem Deutschen geschrieben und sollte mit
dieser falschen Herkunftsangabe attraktiver gemacht werden].
Werfen
wir zunächst einen Blick in den Alltag des Menschen vom Jahre 2000.
Immer noch steht die Hausfrau in der Küche. Aber der Gasherd und der
elektrische Kocher sind verschwunden. Sie verstauben irgendwo im
Museum. Die Hausfrau kocht mit Hochfrequenz-Strömen, die direkt
durch das Essen geleitet werden. Sie benötigt zum Kochen nur noch
den sechzigsten Teil der Zeit, die eine Hausfrau von 1950 vor ihrem
Herd verbringt. Übrigens gibt es auch in unseren Tagen schon
Hochfrequenz-Kocher, die ein Beefsteak in sechs Sekunden butterweich
werden lassen und einen Braten in zwei Minuten tischfertig machen.
[Das entspricht der Mikrowelle, die allerdings ältere Technik noch
nicht verdrängt, sondern nur ergänzt hat. Dass es auch Hausmänner
gibt oder der technische Fortschritt überaus komfortable
Single-Haushalte ermöglicht, konnte man sich erst recht nicht
vorstellen; kein Wunder in einer Zeit, in der es noch nicht einmal
den Begriff „Single“ gegeben hat, sondern allein lebende Leute
noch wie im Mittelalter als „Hagestolz“ und „alte Jungfer“
galten.] Auch der Ärger mit den Uhren hat im Jahre 2000 aufgehört.
Denn jeder Mensch besitzt eine Uhr, die sich automatisch nach
Radiosignalen regelt [mit Uhren wurde das technisch realisiert, war
aber nicht allgemein nötig, moderne internetfähige Geräte können
es auch].
Hefe
statt Fleisch
Wahrscheinlich
werden sich die Menschen in 50 Jahren Sorgen machen müssen, woher
sie das Fleisch nehmen sollen. Denn die Bevölkerung der Erde hat
sich dann so stark vermehrt, daß die Landwirtschaft nicht die
nötigen Mengen Fleisch erzeugen kann. Doch die Wissenschaft hat
einen Ausweg gefunden. Neue hochwertige Nahrungsmittel werden
industriell hergestellt. Das Ausgangsprodukt ist – Hefe. Sie hat
die Eigenschaft, in sehr kurzer Zeit Eiweiß aufzubauen. Sie tut es
144'000 mal so schnell wie der tierische Organismus [War überflüssig,
weil die Nahrungsmittelindustrie generell effizienter wurde und das
Wachstum der Weltbevölkerung im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts
zu Ende ging. Hefen, denn es gibt mehrere Arten, haben anderweitig
Verwendung gefunden].
Für
die Abwechslung auf dem Speisezettel sorgen neue Früchte und Gemüse.
Sie werden nicht mehr umständlich konserviert und zurechtgemacht,
sondern werden mitten in den Wohnvierteln in besonderen Treibhäusern
unter ständiger Aufsicht von Versuchslaboratorien gezogen [falsch].
Chemiker und Botaniker wachen darüber, daß nur die beste Ware auf
den Tisch kommt.
Mit
den Rohstoffen der Industrie geht es ähnlich. Niemand denkt mehr
daran, seinen Bedarf an Holz, Gummi oder anderen Stoffen aus
natürlichen Quellen zu decken. Denn im Jahre 2000 wird es bessere
künstliche Produkte geben. Schon heute zeigt die
Kunststoff-Industrie überraschende Erfindungen auf diesem Gebiet.
Außerdem wird es mit Hilfe der Atomphysik möglich sein, jeden
beliebigen Stoff herzustellen. Wahrscheinlich auch Substanzen, die
uns heute noch unbekannt sind [technisch korrekt, nur ging es nicht
ganz so schnell mit der kompletten Synthetisierung, denn sie war auch
im Jahr 2015 noch aufwändig und teuer, so dass natürliche Quellen
weiterhin ihre Berechtigung hatten].
Neue
Hoffnung für Kranke
Auf
dem Gebiet der Medizin sind erhebliche Verbesserungen zu erwarten.
Wahrscheinlich wird man im Jahre 2000 den Krebs erfolgreich
bekämpfen. Heute schon kennt die Krebs-Forschung einen Stoff, das
sogenannte "Guanazalo". Spritzt man ihn in die Blutbahn
krebsinfizierter Mäuse, so hören die kranken Zellen zu wachsen auf.
Gesunde Körperzellen werden nicht angegriffen. Heute ist das
"Guanazalo" beim Menschen noch nicht wirksam. Aber andere,
bessere Mittel werden es in 50 Jahren ersetzt haben [hier ist „der
Krebs“ eine zu starke Vereinfachung. Es gab Arten, welche bis zum
Jahr 2000 heilbar gemacht wurden und andere, die noch bis 2015 allem
Bemühen widerstanden]. Die Ärzte werden die rheumatische Gicht in
wenigen Tagen heilen können [falsch, auch noch im Jahr 2015 waren
langwierige Therapien erforderlich]. Die Tuberkulose wird dann eine
fast unbekannte Krankheit sein [richtig]. Menschen, die das
hundertste Lebensjahr überschreiten, sind nicht mehr selten
[richtig].
Auch
im Straßenverkehr hat sich das Bild völlig verändert. Kraftwagen
werden zwar nicht durch Atomkraft angetrieben, wohl aber durch
Elektrizität [wurde erst nach dem Jahr 2000 schrittweise aufgebaut].
Und diese Elektrizität wird von den großen Atom-Kraftwerken sehr
billig geliefert [nicht nur von diesen]. Scheinwerfer und
Windschutzscheiben der Fahrzeuge sind aus polarisiertem Glas
gefertigt und schließen jede Blendung aus [technisch realisiert,
aber noch kein Standard]. Einige Länder verzichten auf die
Straßenbeleuchtung. Denn sie strahlen an wolkenlosen Tagen
gebündelte Rundfunkwellen senkrecht nach oben und lassen so in
vielen Kilometern Höhe eine künstliche Sonne aufleuchten [falsch,
weil es den Flugverkehr behindern würde].
Die
Kinobesucher kommen besser auf ihre Kosten als die Menschen von
heute. Denn inzwischen ist der lang erwartete farbige plastische Film
endlich Wirklichkeit geworden [„plastisch“ bedeutet 3D und das
wurde in der Tat realisiert, die wahre Herausforderung ist aus
heutiger Sicht die „force feedback“-Technik, mittels derer man
die Handlung auch am eigenen Leibe spürt. Seltsam genug jedoch, dass
hier kein Wort vom Fernsehen steht, obwohl es sich in Schwarzweiss
bereits ausbreitete und in Farbe absehbar war].
Roboter
tun die Arbeit
Die
Fabriken beschäftigen nur noch wenige Arbeiter. Roboter und
Automaten ersetzen die menschliche Arbeitskraft [das dauerte länger
als bis zum Jahr 2000 und vollzog sich nicht pauschal, sondern je
nach Branchen unterschiedlich]. Die Menschen aber verwenden einen
großen Teil ihrer freien Zeit darauf, an Fortbildungskursen
teilzunehmen [richtig].
Vor
allem aber werden die schon lange geplanten Gartenstädte
Wirklichkeit [falsch]. Denn ein längerer Arbeitsweg ist kein Problem
mehr, weil die Arbeitszeit verkürzt ist [falsch, denn wir haben
trotz aller Roboter noch Arbeit ohne Ende]. In den Gartenstädten ist
jedes Haus mit fließend warmem Wasser und Fernheizung ausgestattet
[meine Güte, wie armselig muss das Jahr 1950 gewesen sein, wenn
diese für uns selbstverständlichen Dinge noch als erstrebenswerte
Zukunft galten! Etwas Ähnliches zeigt sich in Dürrenmatts Stück
„Der Besuch der alten Dame“ von 1955, wo der Kauf von Vollmilch,
Weissbrot, Butter, Schokolade oder einem Radio als Zeichen von
Wohlstand gelten, Dinge also, die man heute zu Spottpreisen bekommt].
Den
Gelehrten ist es inzwischen gelungen, Einsteins neue Theorie von der
Beziehung zwischen Schwerkraft und Magnetismus entweder zu beweisen
oder aber zu widerlegen. Vielleicht sind sich dann die Astronomen
auch über Größe und Form des Weltalls einig. Sicher aber werden
sie eine Erklärung für das Aufleuchten der "Supernovae",
der neuen Sonnen im Weltall, gefunden haben [in diesem Absatz ist
alles zutreffend].
Der
Mond ist nicht mehr einsam
Die
berühmte Raketenlandung auf dem Mond ist auch im Jahre 2000 noch
nicht geglückt [Doch, schon 1969, nur 19 Jahre nach der
Veröffentlichung dieses Textes. Im realen Jahr 2000 ging es bereits
um den Mars]. Aber hochentwickelte Atomkraft-Raketen werden bereits
vom Mond, vom Mars und von der Venus genaue Aufnahmen mitbringen [und
noch aus viel grösserer Entfernung]. Sie senden wertvolle
Informationen durch Radiosignale zur Erde. Wahrscheinlich werden
einige der abgeschossenen Raketen von ihrer Bahn abweichen und als
Monde um die Erde kreisen. Sehr zur Freude der Liebhaber-Astronomen,
denen diese Monde zur Prüfung ihrer Teleskope und Chronometer nur
willkommen sind [warum kam man nicht auf die Idee, dass künstliche
Satelliten eigens für einen bestimmten Zweck gebaut würden? Konnte
man sich ihren Nutzeffekt nicht vorstellen? Zum Vergleich: Arthur C.
Clarke sagte in den 1950ern ein Satellitennetzwerk zur Kommunikation
voraus und behielt damit Recht, von den Arbeiten eines Tsiolkowski
schon fünfzig Jahre zuvor gar nicht zu reden. Auch hier hat also der
Verfasser des Artikels Dinge, die bereits veröffentlicht waren,
entweder nicht gekannt oder sogar gezielt ignoriert.].
Alle
diese Erfindungen liegen im Bereich der technischen Möglichkeiten.
Aber sie werden den Menschen nur zugute kommen, wenn die Arbeitskraft
der Gelehrten und der Reichtum unserer Erde friedlichen Zwecken
dienstbar gemacht werden. Gewiß werden es unsere Nachfahren im Jahre
2000 einfacher haben. Sie werden bequemer leben [noch nicht alle].
Aber sie werden nicht glücklicher sein als die Menschen von 1950.
Und – sie werden genau so wenig zufrieden sein, wie wir es sind!
[Die
beiden letzten Sätze gehen davon aus, dass die menschliche Natur
immer gleich bleibt, das war ein Irrtum.]
Kommentar:
In diesem Text hat man die bemannte Raumfahrt, erst recht ihre
private Dimension, die Biotechnik und die Digitalisierung vollständig
übersehen, die die Welt noch stärker veränderten, als man damals
ahnen konnte. „Fortbildung“, um nur ein Beispiel zu nennen,
bedeutete schon seit den 1970ern nicht mehr nur den physischen Besuch
irgend einer Lehreinrichtung, sondern auch das „Telekolleg“ im
Fernsehen und im 21. Jahrhundert Bildung jeglicher Art aus dem
Internet.
Man
betrachte nun diese Texte im Zusammenhang. Von 1922 bis 1950, also in
nur 28 Jahren, werden darin verschiedene Aspekte aufgegriffen und was
der eine noch nicht ahnte, galt wenig später einem anderen aus der
selben Generation als unvermeidlich. Der Grund ist, dass jene Zeit
auch schon eine Epoche starker bis radikaler Veränderungen war, wie
ein Blick in die Geschichte allgemein beweist. Im Jahre 1950 lebten
die Menschen bereits „im Schatten der Atombombe“, die 1922 noch
von etlichen seriösen Denkern für unmöglich gehalten wurde, die
„Elektronengehirne“ hatten ihren Siegeszug angetreten und der
„Wettlauf um den Weltraum“ war in vollem Gange. Nur uns Heutigen,
die wir an den Konsum riesiger Datenmengen in kürzester Zeit gewöhnt
sind, mag das alles noch sehr langsam erscheinen.
Durch
die in unserer Zeit so sehr beschleunigte technische Entwicklung
wurde auch die SF schneller überholt als früher. Es fiel mir zuerst
bei Filmen der 1950er auf, aber wenn man das Muster einmal erkannt
hat, wird es auch anderswo offensichtlich: um eine in sich plausible
Geschichte zu erzählen, musste man den Kosmos wesentlich
phantastischer und schreckenerregender gestalten, als er in
Wirklichkeit ist und die Technik permanent schwächer darstellen als
den Menschen, was erst recht absurd ist. Das war eine kommerziell
sehr erfolgreiche Strategie, weil sie die menschliche Eitelkeit
bedient und manches der so entworfenen Universen ist überaus
attraktiv, aaaber – ja, das verflixte „Aber“ sagt uns ein ums
andere Mal, dass die Wirklichkeit nicht so funktioniert.
Fast
möchte man das bedauern. Alle Träume von exotischen fremden Welten,
von unsagbarer Schönheit, wunderbaren Aliens usw. sind zerfallen.
Jeder kann heute einen SF-Roman oder -Film unter die Lupe nehmen, mit
der tatsächlichen Entwicklung vergleichen, die in der Fiktion
enthaltenen Fehler aufspiessen und den physikalischen Hintergrund
erklären, wo die eigenen Kenntnisse nicht ausreichen, nimmt man die
Fachliteratur und neuerdings das Internet zu Hilfe – fertig.
Wir
können auch nicht mehr auf „neue“ Entdeckungen hoffen, denn
jedesmal, wenn wir einen Planeten finden, kennen wir auch sofort
seine Grösse, Schwerkraft, Oberflächentemperatur etc., brauchen
also nicht erst hinzufliegen, um enttäuscht zu werden. Dieses
Szenario hat sich nun schon mehrere tausend Male abgespielt und es
ist kein Wunder, dass das Publikum die Lust verliert. Noch ein
langweiliger Gasriese oder toter Felsbrocken? Meine Güte, steckt ihn
irgendwo in eure astronomischen Kataloge und lasst mich damit in
Ruhe.
Unsere
Erwartungen waren hoch gespannt, um so tiefer dann der Fall in die
Realität. „Grundlagen“-Forschung ist nicht sexy, reale
Beschränkungen im Gegensatz zu fiktiver Allmacht können nicht
begeistern. Führt man diesen Gedanken weiter, dann könnte man zu
dem Schluss kommen, dass die Expansion ins All ihre Schuldigkeit
getan hat, dass alle Fragen beantwortet sind und wir für den Rest
unserer Existenz hier auf der Erde bleiben können.
Natürlich
ist Raumfahrt auch ein gutes Geschäft, also wird man sich bemühen,
die Begeisterung dafür so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.
Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten:
a)
die Leute werden von der Realität so enttäuscht, dass dieses
Geschäft in einigen Jahren endgültig untergeht
oder
b)
sie werden selbst von dem Wenigen, was die Wirklichkeit zu bieten
hat, dermassen süchtig, dass sie die Raumfahrt weiter voran treiben,
was dann ironischerweise dazu führen könnte, sie doch noch auf
galaktisches Niveau zu heben.
Man
hat denn auch den Eindruck, dass die Fiktion seit den 1950ern
überhastet versuchte, den Anschluss an eine immer schnellere
Entwicklung in der Realität zu finden und dabei scheiterte. Aldous
Huxley brachte das auf den Punkt, als er nach der Entdeckung der DNS
sagte, er habe sein 1936 verfasstes Buch „Schöne neue Welt“ 600
Jahre in der Zukunft spielen lassen, aber nun, im Jahr 1953, könne
er nicht einmal mehr dafür einstehen, dass diese Zukunft noch
hundert Jahre entfernt sei; womit er denn auch recht behalten hat,
wie wir heute wissen. Selbst Trash-Filme, die sich nicht um Logik
kümmerten, wurden davon beeinflusst, weil dieses neue Wissen auch in
den Köpfen ihrer Produzenten vorhanden war; um so mehr jede ernst
gemeinte SF und ein Glanzstück dieser Bemühungen ist Stanley
Kubricks Film „2001 – A Space Odyssey“, dessen Vorhersagen
allesamt (!) fehlschlugen.
Star
Trek versuchte ab 1987 noch einmal, uns mit klassischem SF-Handwerk
eine Vorstellung vom 24. Jahrhundert nahe zu bringen, wurde aber
nicht erst nach Jahrhunderten, sondern schon nach zwei Jahrzehnten
hoffnungslos altmodisch, weil die „Zukunftstechnik“ entweder da
war oder kurz vor der Markteinführung zu stehen schien. Als Reaktion
darauf entwickelte sich ab den 1980ern die „Near-Future-SF“ und
als ihr berühmtester Zweig der Cyberpunk, in dem die Welt von
ungefähr 1999 bis 2060 zum Schauplatz dieser Zukunftstechnik
gemacht wurde, bis auch das nicht mehr glaubwürdig war.
Dabei
ist ausserdem zu sehen, dass wir nicht die Wahl haben, welche
Zukunftsvision wir denn gerne realisieren wollen, sondern dass alle
verwirklicht werden, sofern sie nur nach den Naturgesetzen machbar
sind. Es gibt heute
Roboter und
Cyborgs und
Energiewaffen und
private Raumfahrt und
Gentechnik und
Tricorder und
automatische Gesichtserkennung und
totale Überwachung und
Megakonzerne und
Marsflüge und
Meteoriteneinschläge und
Superviren und
Cyberwar und
Klimawandel und
private U-Boote und
Nanomaschinen.
William
Gibson, der Schöpfer des Wortes „Cyberpunk“ und vieler
grundlegender Ideen dazu, holte seine Geschichten im frühen 21.
Jahrhundert deswegen immer näher an die Gegenwart heran und in der
Technologie des „Shadowrun“-Universums gab es mehrere radikale
Sprünge, um das fiktive Jahr 2070 nicht altmodischer aussehen zu
lassen als das wirkliche Jahr 2010, bis man nur noch sagen konnte
„das wars, die Zukunft ist jetzt“ und scheinbar „fantastische“
Technik nur noch Stoff für Geschichten aus der Gegenwart hergab.
Wie
das im Einzelnen abläuft, sieht man am „papierlosen Büro“,
einer Idee, die sehr attraktiv klang, aber an einem Paradoxon
scheiterte: Papier oder andere analoge Datenträger sind nötig, so
lange Menschen den Job machen, es sei denn, die Technik würde sich
so weit entwickeln, dass die Büromenschen von selbst zu ihr greifen
und Papier überflüssig wird. Wenn aber die Technik das schafft,
dann ist sie gleichzeitig so hoch entwickelt, dass auch Büros an
sich überflüssig werden, weil die Technik alles alleine kann.
Einige
bereits realisierte Beispiele:
-
Die Einführung der deutschen Steueridentifikationsnummer liess die
bisherige Arbeit des Herstellens, Verteilens und Verwaltens von
Lohnsteuerkarten und lokalen Steuernummern verschwinden. Ein paar
Tastendrücke, ein paar Mausklicks, die von überall möglich sind –
mehr blieb nicht mehr übrig.
-
Nach dem selben Muster, aber radikaler in der Ausführung, sind in
der Verwaltung von Unternehmen viele Arbeitsschritte verschwunden,
die mit der Büroorganisation von 1950 oder 1980 unverzichtbar waren
und die heute niemand mehr kennt. Dadurch wurden ganze Abteilungen
überflüssig.
-
Der Zugang zum Arbeitsplatz wird nicht mehr über einen papierenen
Werksausweis geregelt, den man einem Pförtner zeigt, sondern über
Chipkarten, Transponder und/oder Implantate, die nur noch kurz vor
einen in die Wand eingebauten Scanner gehalten werden. Einen Menschen
diesen stupiden Job machen zu lassen, erscheint heute als unnötige
Grausamkeit.
-
Um so viel Wissen global zu verteilen, wie es das Internet leistet,
wäre nach herkömmlichen Verfahren der Aufbau einer gigantischen
Schulbürokratie mit Millionen Beamten erforderlich gewesen, deren
Bürogebäude Hunderte Quadratkilometer Boden bedeckt hätten und
dennoch relativ ineffizient gewesen wären. Spottbillige Netzzugänge
in Asien, Afrika und Südamerika liessen das Bedürfnis nach einem
Monstrum dieser Art gar nicht erst aufkommen.
-
Aus dem selben Grund sind Lexika, Zeitungen und Zeitschriften
verschwunden, die Büros, in denen man früher ihre Inhalte
produzierte, stehen leer und die Menschen haben sich andere Jobs
gesucht.
Die
logische Folge war, dass die SF nach und nach ausstarb, angefangen
bei klassischen Pulp-Magazinen, Comics und Heftromanen. Zu ihren
Blütezeiten hatte jedes dieser Medien für „krisensicher“
gegolten, aber in der wirklichen Welt wird jeder Markt irgendwann
gesättigt; das gleiche Schicksal erlitten Filme, TV-Serien und
Bücher, bis die einst so blühende „Zukunftsindustrie“ der
Vergangenheit angehörte wie der römische Mimus und die Atellane.
Heute,
in einer Welt, in der Kampfroboter Monat für Monat und Jahr für
Jahr Menschen töten und die totale Überwachung von allem und jedem
zum Alltag gehört, die Eroberung des Mars vom grossen Abenteuer zum
schnöden Businessplan geworden ist und Raumschlachten zum
Gemeinplatz in Strategiepapieren; in der ein Photonendetektor die
Heisenbersche Unschärferelation überwindet und asiatische Roboter
auf dem Mond nach Rohstoffen schürfen; in der man Quantencomputer
ebenso im Internet kaufen kann wie neue Hemden; in der
Querschnittsgelähmte wieder aus dem Rollstuhl aufstehen, mit
raffinierten Nanobots im Inneren von lebenden Zellen jede Art Krebs
geheilt werden kann, Prothesen und Implantate in exzellenter Qualität
aus dem 3D-Drucker kommen – in dieser Welt gibt es keine Science
Fiction mehr, sondern eine Jahreszahl nach der anderen, eine
Vorhersage nach der anderen werden abgehakt und wir pflegen eine
teils ironische, teils wehmütige Erinnerung an jene Zeiten, in denen
die Zukunft noch für Überraschungen gut war.
Skeptiker
von heute klammern sich noch an den Hinweis, dass es den
Überlichtgeschwindigkeitsflug, das Beamen, die Zeitreise und das
Menschenklonen nicht gibt und jedesmal lautet die triste
Realität, dass diese Dinge in Arbeit sind und sich nur technischen
Schwierigkeiten gegenüber sehen, keinen grundsätzlichen.