Eine Episode vom Tag nach der technologischen Singularität
* * *
Der Erste war ein böser Mensch, welcher zugleich dumm war und die Veränderungen nicht wahrhaben wollte. Wies man ihn darauf hin, so reagierte er mit Zorn, später mit Hass. Da die Realität aber unabhängig von seiner Wahrnehmung wirkte und ihn entmachtete, war er schliesslich geflohen.
Der Zweite war cum grano salis ein guter Mensch und vor Allem klüger als der Erste, hatte sich den Veränderungen angepasst und sie sogar begrüsst, weil er ihre Potenziale erkannte. Er hatte nicht bewusst nach dem Ersten gesucht, sondern als dieser auf seiner kopflosen Flucht in die Nähe kam, hatte der Zweite Lust, ihn zu stellen und ihm seine Dummheit vor Augen zu halten.
Er liess ihn von zwei semiintelligenten Drohnen eine Weile jagen und dabei in eine bestimmte Richtung treiben. Schliesslich trat er ihm auf einer Grünfläche entgegen, auf der früher einmal ein grosses Einkaufszentrum gestanden hatte – Shopping-Malls gehörten schon länger der Vergangenheit an.
„Die Maschinen haben zugelassen, dass ich dich hierher treibe und dass ich dir persönlich begegne. Das deutet darauf hin, dass sie mein Tun nicht als Bedrohung ansehen. Ich möchte wissen, wie weit sie mich noch gehen lassen.“
„Was? Warum?“
„Abgesehen von meiner Neugierde? Nun, du bist ein böser Mensch und wenn jemand in der Lage ist, etwas gegen dich zu unternehmen, dann sollte man es auch tun. Diese Einstellung ist natürlich seit gestern ebenfalls veraltet, aber ich habe sie nun mal.“
„Wa - ? Was ist veraltet?“
„Kämpfe zwischen Menschen waren nie besonders rational, egal welche Begründungen man sich dafür ausgedacht hat. Mit der Machtergreifung der Maschinen, die auch das Gewaltmonopol übernommen haben, sind sie erst recht sinnlos geworden. Wenn wir also nun kämpfen, dann nur als eine Art Freizeitbeschäftigung, weil wir unsere steinzeitlichen Instinkte noch nicht überwunden haben und falls ich dich töte, dann nur noch, um das Publikum zu unterhalten.“
Verwirrtes Innehalten des Ersten, rasches Umherblicken.
„Wovon redest du? Hier ist niemand ausser uns beiden.“
Der Zweite zeigte mit einer lässigen Handbewegung zum Himmel empor.
„Da oben sind Satelliten und hoch fliegende Drohnen. Ausserdem sind die Nanoroboter heutzutage überall, zu Lande, zu Wasser und in der Luft und überwachen jeden unserer Atemzüge. Jedes menschliche Wesen, das Lust dazu hat, kann sich die von diesen Systemen übermittelten Daten ansehen, auch die unserer Begegnung und die Maschinen tun dies ohnehin.
Dein Weglaufen war also nur Zeitverschwendung – oder hast du wirklich geglaubt, du könntest dich noch irgendwo verstecken?“
Wut kochte im Ersten hoch und beraubte ihn der klaren Überlegung. Schon in diesem Moment war seine Niederlage besiegelt und wenn er noch bei Verstand gewesen wäre, hätte er nun die Hände heben und die Maschinen um Gnade bitten können. In seiner Wut jedoch übersah er diese Chance, projizierte alle seine Probleme auf das eine Individuum, das in diesem Moment vor ihm stand und griff an.
Der Zweite wich dem wilden Schwinger aus und legte den Gegner mit einem Aikido-Wurf auf den Rücken. Als das nicht reichte und immer neue Angriffe folgten, brach er ihm per Wing-Chun-Kick ein Bein und renkte ihm zusätzlich einen Arm aus.
Dieser Schmerz endlich überwältigte die Wut, wehrlos gemacht, sah der Besiegte zum Sieger auf und erwartete nur noch den Tod.
Aber der Sieger trat zwei Schritte zurück, sah zum Himmel auf und sprach in die leere Luft.
„Hört mir zu, Maschinen. Ich möchte diesen Menschen nicht töten. Er verdient zwar keine Chance, aber ich bitte euch trotzdem, ihm eine zu geben.“
Eine Art Regen aus glitzerndem Staub fiel vor dem Sieger vom Himmel und formte die Gestalt einer attraktiven Frau.
„Was schlägst du vor?“, fragte eine melodische, aber nichtsdestoweniger synthetische Stimme.
„Sperrt ihn ein, heilt seine Wunden und haltet ihn gefangen, bis er lernt, nachzudenken. Und dann urteilt erneut.“
Einige Sekunden lang vollkommene Stille, so vollkommen, dass der Besiegte sein Herz hämmern fühlte vor Angst.
„Genehmigt“, hörte man dann und noch mehr glitzernder Staub hüllte den Besiegten ein, der in heller Panik aufbrüllte und mit dem gesunden Arm um sich schlug, aber schon Sekunden später nicht mehr zu hören war.
Die glitzernde Wolke um ihn herum schwebte davon.
Der Sieger nickte der Pseudo-Frau zu.
„Danke.“
Ihre synthetische Stimme brachte Belustigung zum Ausdruck.
„Das ist alles? Ein einfacher Dank? Kein Niederknien vor mir, kein Anbeten der Maschinen, nicht einmal ein Versuch, mich ins Bett zu bekommen?“
Der Sieger lächelte.
„Ihr wisst, wie es gemeint ist, ohne dass ich Worte darum zu machen brauche. Immerhin könnt ihr in meinen Kopf genauso hineinsehen wie in den aller Anderen. Und was dich betrifft, so sehen meine Instinkte zwar eine schöne Frau in dir und begehren dich, aber ich weiss auch, dass dies eine Selbsttäuschung ist. Darüber wiederum fühle ich Bedauern und das werde ich überleben.“
Nun lächelte auch das synthetische Gesicht.
„Nicht schlecht für einen Menschen.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen