Wie bitte? Putin ist doch noch gar nicht tot, was ist das also für eine paradoxe Formulierung?
Eine sehr angemessene.
Hä?
Nun, ihr lieben Kinder, die meisten Abhandlungen über Geschichte erwecken den Eindruck, als seien alle Dinge mehr oder weniger geordnet nacheinander abgelaufen: auf König X folgte Kaiser Y und dann die Republik Z, auf den Krieg von A der Friedensvertrag von B usw. usf.
Das aber ist nur ein Teil des Ganzen und wenn man nur diesen Teil sieht, kann man den Rest nicht verstehen. Während aller Ereignisse, die sich in ein derartiges Schema einfügen, spielt sich nämlich noch das Leben von Milliarden Individuen ab.
Dieses Leben wiederum ist ein reichlich chaotischer Prozess, der sich nicht in starre Grenzen zwängen lässt und das kann jedes Individuum an sich selbst überprüfen. Ich beispielsweise war ein Junge von 15 Jahren, als die Berliner Mauer gefallen ist, in den folgenden beiden Jahren löste sich eines der mächtigsten Imperien der Weltgeschichte in Nichts auf und obwohl ich damals die Fernsehbilder verfolgte wie jeder andere, war die Bedeutung jener Ereignisse für mein Leben eher gering: sie retteten mich weder vor der nächsten Klassenarbeit in der Schule noch vor einer Enttäuschung beim Versuch, ein Mädchen zu beeindrucken.
Auch sonst konnte ich nicht einmal in meinem eigenen Leben, geschweige denn in Kontakten mit anderen Menschen alles geordnet nach Jahreszahlen ablaufen lassen, so sehr ich mir das auch gewünscht hätte, sondern das Leben hatte seine eigenen Zwänge, die sich nicht um Kalenderdaten scherten. Alle möglichen Dinge passierten parallel zueinander.
Genau so ist es auch mit dem Verfall des Putinismus und den Machtkämpfen um seine Nachfolge. Wladimir Putin selbst hat jeden geordneten Machtwechsel unmöglich gemacht, indem er jeden Menschen, der ihm auch nur ansatzweise hätte gefährlich werden können, ermorden liess, bis er um sich her nur noch rückgratlose Feiglinge sah.
Aber zum einen können selbst Feiglinge mit dem sprichwörtlichen Mut der Verzweiflung kämpfen und zum anderen kann man niemals alle anderen erwischen. Selbst wenn diese anderen nichts fühlen als kurzsichtige Machtgier, gibt es genug Menschen, die sich davon antreiben lassen und diese Leute warten nicht bis zum Tode des Herrschers. Die Mitglieder des Rudels wittern es vielmehr sofort, wenn das Alphamännchen angeschlagen ist und bringen sich instinktiv in Position. Die Entschlossenheit des alternden Tyrannen, um keinen Preis aufzugeben, bricht sich nun an immer mehr Stellen, der Gehorsam, den man ihm vordergründig noch immer erweist, hat etwas Lauerndes und seine Anhänger verwenden immer mehr Energie auf Rangkämpfe ausserhalb der offiziellen Hackordnung.
Oha, bin ich etwa ein Kreml-Insider?
Nein, bin ich nicht und brauche ich auch nicht zu sein. Ich kenne diese Geschichte, weil sie sich schon tausendfach abgespielt hat, nur jedes Mal mit anderen Namen. Putin selbst hat beim Ende der Präsidentschaft Jelzins eben die Rolle gespielt, welche nun seine eigenen potenziellen Nachfolger ausfüllen und vor gut einem Jahrhundert spielte in Moskau exakt das selbe Drama beim Tode Wladimir Lenins; wenn wir noch weiter zurückschauen wollen, so haben wir vor etwas über 1900 Jahren im alten Rom das Ende der Herrschaft Domitians usw. usf. Wäre das Schauspiel nicht immer wieder grauenhaft, so könnte man es langweilig finden.
Damit ist also nur noch die Frage, welche Art Mensch der nächste russische Machthaber sein wird. Ein neuer Blut saufender Stalin? Ein neuer relativ gemäßigter Nerva? Wir müssen uns vorsichtshalber auf beide Szenarien gefasst machen.
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