Sonntag, 4. Mai 2014

Quantengedanken


Quantengedanken

„ ... wodurch das betreffende Objekt über elf Dimensionen geschmiert wird.“ („Echt zauberhaft“) oder „Was wir als vergehende Zeit empfinden, sind nur Quantenfluktuationen im Gefüge der Raum-Zeit.“ („Die volle Wahrheit“)

Diese Zitate aus Werken von Terry Pratchett halfen mir unerwarteter Weise dabei, die Quantenphysik zu begreifen.

Dass nach Einstein Raum und Zeit, die man zuvor als getrennt ansah, eine Einheit bilden, die vier Dimensionen hat, habe ich verstanden. Dann aber kommt die Quantenphysik mit ihrer Unschärfe und Unvorhersagbarkeit und das wollte mir nicht in den Kopf. Jahrzehnte habe ich damit gerungen.

Erste Hilfe war der Hinweis, dass Schrödingers Katze eine Metapher ist und der Fehler immer darin lag, diese Metapher wörtlich zu nehmen. Popper als Nichtphysiker versuchte es auch mit dem Bild eines Münzwurfs, wobei die Münze nach dem Fall sowohl Kopf als auch Zahl zeigt, solange niemand hinsieht, also „zur Hälfte in dem einen und zur Hälfte in dem anderen Zustand ist“ (Karl-Popper-Lesebuch).
Auf der Makroebene, auf der wir leben und die wir „wirkliche Welt“ nennen, kann das nicht funktionieren, sondern sorgt nur für Verwirrung und für berechtigten Spott.

Geht man jedoch einige Ebenen tiefer, eben auf Quantengrösse, sieht das schon anders aus. Hier sind verschiedene Zustände eines Teilchens zu ein und demselben Zeitpunkt normal. Leben kann sich hier nicht entwickeln, es gibt keine „Quantenkatze“, sondern nur Teilchen – wobei auch dieses Wort schon wieder irreführend ist, da wir ja bekanntlich eine Welle-Teilchen-Dualität haben. Diese „Wellen- Teilchen“, von den Elektronen bis zur untersten Ebene von allem, den Quarks, sind die kleinsten Bausteine des Universums und können trotz ihrer „Unschärfe“ mathematisch erfasst und physikalisch beeinflusst werden. Darüber hinaus ist diese Unschärfe nicht von Dauer, sondern derartige „Überlagerungen von verschiedenen Zuständen“ wandeln sich in Einzelzustände um, wenn sie einer hinreichenden Einwirkung von aussen ausgesetzt sind.

Wenn wir von der untersten Ebene aufwärts gehen, schliessen sich die Quarks zu den subatomaren Teilchen zusammen, diese wiederum zu Atomen, die Atome zu Molekülen und erst aus den Molekülen wird das, was wir Materie nennen: Holz, Stein, Metall, Wasser, Proteine, Aminosäuren, Sauerstoff, Stickstoff usw.
Wir nennen nur diese Materie die „wirkliche Welt“, aber die anderen Dimensionen, die unsere begrenzten Sinne nicht erfassen können, sind ebenso real. Nachdem sie endlos von der Esoterik oder gar von der Religion missbraucht wurden, können wir sie mittlerweile auseinandersortieren. Um erneut eine Metapher zu gebrauchen: unsere „Wirklichkeit“ ist die Oberfläche eines Ozeans und die Quantenebene ist der Meeresboden. Auf dem Meeresboden und zwischen diesem und der Wasseroberfläche tummelt sich eine erstaunliche Vielfalt an Lebensformen, unterseeischen Vulkanen, schwarzen Rauchern usw. usf., die alle existieren, ohne dass die Seefahrer ganz oben auch nur das Geringste davon ahnen. Es spielt keine Rolle, ob Menschen davon wissen, ob sie es glauben oder theoretisieren, denn wenn etwas existiert, dann existiert es auch ohne die menschliche Wahrnehmung.

Gleichzeitig haben die Dinge unter dem Meer einen spürbaren Einfluss auf die Oberfläche und auf die angrenzenden Kontinente. Das fällt den Menschen früher oder später auf und sie werden neugierig. Mit fortschreitender Technik können sie mehr tun als nur fischen oder Strandgut einsammeln und schliesslich müssen sie ihre Schulbücher umschreiben, weil das neue Wissen trotz aller Scheiterhaufen und Folterkeller nicht mehr ignoriert werden kann.

Genau so ist es auch mit den Dingen auf der Quantenebene. Wir können sie nicht sehen, nicht hören, fühlen, riechen oder schmecken, aber sie haben Auswirkungen auf das, was wir sehen können und dieseAuswirkungen lassen sich berechnen. Ein alltägliches Beispiel ist die Verwendung von Digitaltechnik. Oft genug müssen wir bei Datenleitungen den Stecker herausziehen und wieder einstecken oder einen Computer neu starten, weil der Elektronenfluss kleine Unregelmässigkeiten aufweist, die durch Quanteneffekte entstehen und sich in unseren Geräten als Störungen manifestieren und genau wie wir U-Boote gebaut haben, die bis in die Tiefe des Marianengrabens abtauchen können, besitzen wir inzwischen ein Instrumentarium, mit dem wir auf die Quantenebene vordringen, um solche Effekte zu messen und zu verstehen.
Diese Quantenebene scheint übrigens identisch zu sein mit den „zusätzlichen Raumdimensionen“, die eine weitere Forschungsrichtung postulierte und auf die es inzwischen experimentelle Hinweise gibt, die mittels Nanotechnik gewonnen wurden, also ebenfalls mit der Erforschung des Allerkleinsten.

Und wie sieht das Universum nun „wirklich“ aus? Wenn es nicht unendlich ist, was die Physik ja ebenfalls behauptet, was ist dann ausserhalb davon?
Nichts.
Wie bitte?
Sie haben richtig gelesen. Das Universum ist alles, enthält alles und es gibt kein „Ausserhalb“, keinen Ort, keinen Raum, keine Zeit. Das ist für uns Menschen schwer fassbar, weil unsere Wahrnehmung nicht für alle Dimensionen ausreicht, es ändert aber nichts an der Realität.
Eine gute Metapher dafür ist die Erde, wie Stephen Hawking so treffend sagt: sie hat keine Grenze, obwohl sie endlich ist. Dank ihrer Kugelgestalt gibt es keinen „Rand“, von dem man herunterfallen könnte.
Ebenso ist das ganze Universum endlich, man hat seine Grösse sogar berechnet, aber es gibt keinen Punkt, auf den man zeigen kann und sagen, dass es „hier“ zu Ende wäre. Oder nehmen wir das Möbiusband. Es hat weder „Anfang“ noch „Ende“, was aber eine darauf kriechende Ameise nicht daran hindert, den Punkt, auf dem sie sich befindet, als Oberfläche zu benutzen. Grafisch dargestellt hat dies M. C. Escher und wenn Sie wollen, basteln Sie sich selbst eines und probieren Sie es aus.

Soll das heissen, wir bewegen uns im Inneren einer riesigen Hohlkugel oder wie? Um genau zu sein, ist die Form des Universums die eines Poincaré-Dodekaeders, der sich als „mathematisch exakter Fussball“ beschreiben lässt und einen Durchmesser von 27,6 Milliarden Lichtjahren besitzt. Das konnte Stephen Hawking in seiner „Kurzen Geschichte der Zeit“ noch nicht schreiben, auch nicht in der erweiterten Neuauflage, weil wir es erst im Jahr 2004 herausgefunden haben.

Aber was ist dann mit dem Ursprung des Universums? Urknall schön und gut, aber wer hat ihn gezündet?
Es gibt kein „Wer“. Die Quanteneffekte haben ihn hervorgerufen.
Ah-ha, schreit man mir triumphierend entgegen, und woher kommen die Quanten?
Euer Triumph ist eure Niederlage. Es gibt kein „Woher“. „Vor“ dem Urknall existierten kein Raum und keine Zeit, wo die Quanten oder irgend etwas Anderes hätten sein können. Vergessen Sie die menschliche Wahrnehmung und das menschliche Zeitgefühl. Sogar der katholische Heilige Augustinus,
den man beim besten Willen keinen Wissenschaftler nennen kann, hat das schon vor 1600 Jahren begriffen und sagt ausdrücklich, dass es vor dem Anfang des Universums keine Zeit gegeben hat.

Deswegen lügt man sich selbst an, wenn man sagt „Gott ist schon immer gewesen“ oder „Das Universum ist schon immer gewesen“. Der menschliche Hang zum Geschichtenerzählen mit Anfang und Ende führt uns in die Irre. Wir sagen, dass der Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren stattfand und wir haben die Geschichte unseres Universums bis auf eine Zehntausendstelsekunde nach diesem Moment rekonstruiert und wenn es gelingt, diese letzte Zeitspanne zu überwinden, kommen wir an einen Punkt, an dem es kein „Vorher“ gibt.

Was gibt es dann überhaupt? Was ist real?
Verschiedene Quantenzustände, weiter nichts.
Und was heisst das nun?
Dass wir lernen müssen, mit Unklarheiten und Grauzonen zu leben, dass es keine „letzte Wahrheit“ gibt, sondern nur verschiedene gleichermassen „richtige“ oder „wahre“ Dinge, je nachdem, von welchem Quantenzustand der Beurteiler ausgeht.

Es ist nicht nur mir sehr schwer gefallen, mich mit solchen Gedanken anzufreunden. Unsere Sinne stehen uns dabei im Weg, liefern uns Botschaften, die wir „Wirklichkeit“ nennen und wir wehren uns dagegen, etwas anderes auch nur in Betracht zu ziehen. Wenn es Sie tröstet: Ein so kluger Mann wie Goethe hatte seine Schwierigkeiten damit, dass das Universum so ist, wie es ist und wollte lieber im Irrtum verharren.
Gleichzeitig aber verfügen wir über die Möglichkeit des abstrakten Denkens und die hat sich letzten Endes durchgesetzt. Wir können Dinge glauben, die wir nicht sehen, die sogar dem, was wir sehen, ausdrücklich widersprechen. Die selben Gehirnfunktionen, die das Märchen zum erfolgreichen Geschäftsmodell gemacht haben, dienen uns auch dazu, die Wirklichkeit zu verstehen. Hawking sagt „Eine Theorie existiert nur in unserer Vorstellung und besitzt keine andere Wirklichkeit“.
Das gilt auch für Märchen und Metaphern. Wir wussten durch Jahrhunderte hindurch, dass es keine sprechenden Tiere gibt, dass in der wirklichen Welt die Guten nicht immer gewinnen, ja wir konnten uns sogar schon vor langer Zeit zu der Aussage vorwagen, dass „Gut“ und „Böse“ „keine Konstanten sind, sondern nur Funktionswerte“ (Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, Erstes Buch, 1930), aber wir wollten an die Fiktionen glauben. Es war wiederum Terry Pratchett, der mich mit der Nase auf die Begründung stiess: „Die Menschen müssen an etwas glauben, sonst hat doch alles keinen Sinn“ („Schweinsgalopp“). Weil es von Natur aus keinen Sinn gibt, unser Gehirn aber einen braucht, erfinden wir einen.

Das ist die einzige Freiheit, die wir haben: uns in einem grossen, kalten und fremdartigen Weltall für die Erklärung zu entscheiden, die uns am besten gefällt. Und es ist das, was wir tatsächlich tun, indem wir an den „letzten Wert“ glauben, an den wir glauben wollen.
Und nein, das ist nicht philosophisch, sondern so funktionieren unsere Gehirne tatsächlich. Wir können das heute beweisen, indem wir das Gehirn eines beliebigen Menschen mit einem Neuroscanner durchleuchten und sein Glaubenszentrum beobachten (es sitzt vorne links). Wir können das menschliche Gehirn sogar schon manipulieren, eine Tumoroperation etwa machte 2010 einen brutalen Gewalttäter zum Weichei, ohne dass man dies beabsichtigt hätte (faz.net) und schwache Stromstösse auf bestimmte Hirnareale erzeugen Illusionen verschiedenster Art. Wenn es also noch Beweise gebraucht hätte, dass alles „Höhere“, von dem Menschen reden, alle Religionen etwa, nur Einbildung sind, dann wären sie damit erbracht. Es gibt nur uns.

„Wie kannst du so leben?“, schreit man mich an.
Ich lache und frage zurück „Wie sollte ich denn anders leben?“
„Aber das ist doch schrecklich, so ohne Sinn und ohne Ziel, ohne den Trost, den nur etwas Höheres spendet.“
„Im Gegenteil“, sage ich, „das ist das einzig Wahre und Beglückende. Frei von aller Illusion, frei von allen Lügen der Priester und Prediger, auch frei von den Lügen der Politiker und ihrer Ideologien.“
Solche Debatten werden schon seit vielen Jahrtausenden geführt, denn die Menschen sind nun einmal verschiedener Natur und weil viele Leute ein Nebeneinander verschiedener Ansichten nicht ertragen können, werden immer wieder Massaker an Andersdenkenden veranstaltet. Die einzig praktikable Form, das zu vermeiden, sind Gedankenfreiheit und Demokratie, was auch die Freiheit bedeutet, seine Meinung zu ändern und in der dann jedes Individuum sehen kann, wie weit es mit seinen Ansichten kommt.

Im Bewusstsein dieser Dinge entscheide ich mich für das Wissen. Ich habe alle Philosophien der Welt geprüft, alle Religionen und alle Ideologien, habe mein Weltbild immer wieder verworfen und neu aufgebaut, wenn die Theorie von der Praxis zerschmettert wurde und nun bleiben nur noch Wissenschaft und Technik übrig. Der Vollständigkeit halber: Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass dieses Weltbild falsch sein und jederzeit zusammenbrechen kann. 

In früheren Jahrhunderten und in den Medien bis heute wird eine Erkenntnis des ganzen Universums auch als „Weltformel“ bezeichnet, aber dieser Name beruht auf einem Mißverständnis. Erinnern Sie sich an den Mathematikunterricht in der Schule: wenn Sie versucht hätten, ein Rechteck oder einen Kreis mit der selben Formel zu berechnen wie ein Dreieck, wäre nur Chaos dabei herausgekommen. Eine einzige Formel kann nicht alles erfassen, eine Theorie kann ganz umgekehrt ohne Formeln auskommen und trotzdem richtig sein, sie kann auch mehrere Formeln enthalten, die alle richtig sind, weil jede von ihnen einen Teil der Theorie abdeckt. Dieses Letztere scheint mir auch auf die Physik zuzutreffen, denn Newtons Gleichungen wurden ja nicht plötzlich falsch, als Einstein erschien und Einsteins Relativitätstheorie behielt ihren Wert trotz der Quantenphysik. Die „Theorie für Alles“ wird also mehrere Formeln haben, die alle zusammen das Universum vollständig beschreiben.

Wann wir diese Theorie endlich haben? Das weiss kein Mensch. Es könnte morgen früh so weit sein, es
kann aber auch noch tausend Jahre dauern. Ich persönlich glaube, dass wir es im Lauf des 21. Jahrhunderts hinkriegen werden, ob vor oder nach dem Weltraumlift, dass muss ich offen lassen.

Wozu eine solche Theorie gut ist? Nun, zum einen können wir damit alle noch offenen Fragen beantworten und das ist keine Kleinigkeit. Über dieses Ziel hinaus wird sie zu technischen Entwicklungen führen, die dem einzelnen Menschen unendliche Macht verleihen und spätestens damit lässt sich jeder ködern, dem das Erringen von neuem Wissen nicht genügt.

Damit ist nun das angeblich so unverständliche Thema Quantenphysik abgehakt und ja, ich weiss, dass es Leute gibt, die mich für diese Ansicht in der Luft zerreissen werden. Damit kann ich leben.

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