Sonntag, 10. August 2014

Leben 2030


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Leben 2030


Sie kannten sich bereits einige Jahre.

Irgendwann küssten sie sich.

Irgendwann schliefen sie miteinander.

Von Heirat war keine Rede.

Vom Zusammenbleiben auch nicht.

Solche Dinge kannten sie nicht mehr.

Sie waren auch nicht notwendig. Diegentechnische Revolution der 20er Jahre, wie sie in einemGEO Specialvon 1995 vorhergesagt wurde, hatte die Prognose übertroffen und mehr getan, alsnurdie ewige Jugend und einige andere Kleinigkeiten über die Menschen zu bringen.

In früheren Jahrhunderten waren alle Emanzipationsversuche der Frauen damit kommentiert worden, sie seien nur Zeitverschwendung, weildie Biologiedie Frauen schliesslich doch wieder in ihre alten Rollen zurückzwingen würde. In der Tat hatte jede Frau, die gegen ihren eigenen Körper Veränderungen durchsetzen wollte, dafür einen hohen Preis bezahlt, am Ende nichts erreicht, was diesen Preis wert gewesen wäre und nach diesem Wissensstand war 1995 davon ausgegangen worden, dass auch die Frauen des Jahres 2050 noch unglücklich sein müssten, wenn sie bei allen sonstigen Freiheiten und im Genuss etlicher technischer Fortschritte, die das Leben erleichterten, einenunerfüllten Wunsch nach Fortpflanzungverspürten.

Die Gentechnikjedoch hatte dem ein Ende bereitet. Das alteBody-Hackingwar zumGen-Hackinggeworden, nachdem phantastisch schnelle KIs die nötigen Berechnungen aufs Wort durchführten und die Ergebnisse binnen Sekunden verfügbar hatten. Der Wunsch nach Kindern war ebenso in den Körper einprogrammiert wie alles andere menschliche Verhalten, mit einer hinreichend fortgeschrittenen Technik ebenso manipulierbar und konnte, wie alle Features der Evolution, auch gelöscht werden.

Nur für den Moment hatte das alsrevolutionärgegolten. Um es mit einer Analogie aus dem 20. Jahrhundert zu sagen: die Freaks der 1970er, mit Science Fiction gefüttert bis zum Exzess, griffen freudig nach den Methoden der Datenverarbeitung für den Hausgebrauch und erfanden so den PC.
Das war eine Revolution, bedeutsamer als alle Revolutionen zuvor, aber schon für die nächste Generation war dieseWunderkisteso selbstverständlich, dass sie dem Enthusiasmus der Erfinder verständnislos gegenüberstanden. Jedes Kind konnte nun in den Sommerferien ein Internet-Start-Up gründen und noch vor dem Beginn des nächsten Schuljahres damit pleite gehen, das war beim besten Willen nichts Besonderes mehr. Die digitale Welt war zu einer als natürlich empfundenen Erweiterung der analogen geworden und schliesslich, wie der damals recht bekannte Blogger Sascha Lobo schon im Juli 2011 vorhersagte, mit ihr verschmolzen.

So auch die Biotechnik, um den sachlich richtigen Begriff zu verwenden. In einer Welt, in der es schon keine Zeitungen, keine Kinos und keine Fernsehsender mehr gab, weil dies alles längst durch Besseres ersetzt worden war, in der gleichzeitig die Robotik den perfektioniertenelektronischen Sklavenzum Massenprodukt gemacht hatte, wodurch es kein Geld mehr zu geben brauchte, einer Welt, die keine Verbrechen mehr kannte, kaum noch so etwas wie einen Staat und den Urlaub auf dem Mars als eine von vielen Möglichkeitenin einer solchen Welt war alles, was noch im 20. Jahrhundert globales Aufsehen erregt hätte, alltäglich. Mindestens seit 2010 bastelten enthusiastische Amateure an ihren eigenen Genen herum, tauschten ihre Ideen, Erfahrungen und Ergebnisse öffentlich aus und tüftelten gleichzeitig Forscher an der Lösung der letzten offenen Fragen, die nur noch das Zusammenwirken der Gene und Proteine untereinander betrafen, weil diese Elemente selbst schon kartiert waren.

Im Jahre 2022 hatte die Menschheit mit 7,5 Milliarden Exemplaren ihre grösste Masse erreicht. Ein Zusammenspiel aus immer besseren Verhütungsmethoden und technischer Entwicklung hatte Kinder zu einem reinen Luxusgut werden lassen und folglich sanken die Geburtenraten, mancherorts bis auf Null, im Rest der Welt auf so geringe Werte, dass der Anblick von Kindern fast nur noch in alten Videos zu haben war. Manche Leute experimentierten weiter mit Fortpflanzung, aus Neugierde ohne tiefere Gründe, aber das war auch schon alles. Davon eine Renaissance der klassischen Rollenbilder oder Familienmodelle zu erwarten, hätte ungefähr bedeutet, Michelle Obamas Gemüsegarten als Rückkehr in die vorindustrielle Gesellschaft zu betrachten.

In dieser Welt, unter diesen Umweltbedingungen setzte die Biotechnik den Schlusspunkt und entfernte den Drang nach Fortpflanzung aus den menschlichen Genen. Es erschien zuerst nur als eine Option unter vielen, sein Leben zu gestalten und natürlich konnte man auch den umgekehrten Weg gehen und sich einen solchen Wunsch einbauen lassen.
Manchen Leuten genügte das nicht. Einige versuchten ein Virus zu erschaffen, das diese Manipulation über die ganze Welt verbreiten sollte, das rief Abwehrmassnahmen hervor und am Ende beruhigten sich alle Kontrahenten bei der Erkenntnis, dass auch solche Möglichkeiten nicht aufgezwungen werden dürfen, sondern die Wahl jedem Individuum selbst zu überlassen ist.
Die Folge war, dass die Menschen sich für die bequemste Lösung entschieden und den ganzen Unsinn der Fortpflanzung allmählich aufgaben.

Auf einem Planeten, der von Robotern und Do-it-yourself-Mutanten aller Art wimmelt, ist das nur eine kurze Episode. Die Erde war ja ohnehin, wie Hans Moravec 1996 treffend formulierte,immer fremdartigergeworden, nota bene, fremdartig vom Standpunkt früherer Jahrhunderte aus.
Wie fremd? Nun, als meine Mutter in den 1990ern zum ersten Mal einenStar Wars-Film im Fernsehen sah und zwar Episode IV, da staunte sie über die vielen verschiedenen Aliens in der Kneipe auf Tatooine. Für die Erdbewohner des Jahres 2030 ist diese Szene nur schwache Annäherung an eine Wirklichkeit, die man nicht irgendwo im All suchen muss, sondern direkt vor der Haustür bekommt.

Relativ oberflächlich sind Dinge wie ins Erbgut einprogrammierte bunte Haare und bunte Augen, unter die Haut gelegte OLEDs, deren Träger dann aussehen wie Leuchtreklamen aus Fleisch oder die Traumfigur nach welchem Vorbild auch immer, die von selbst in die richtige Form wächst.
Pragmatischer wirken verbesserte Lungen, ein stärkeres Herz oder ein besseres Gehör, das Letztere durch Nanoimplantate sogar noch schneller zu erreichen, aber dann eben nicht fest einprogrammiert.
Am tiefsten gehen die genetischen Hybriden, die sich Eigenschaften anderer Spezies aneignen, etwa der Wolfsmann, dem sein Pelz bei lebendigem Leibe gewachsen ist, der nun in der Tat aussieht wie ein zwei Meter grosser, aufrecht gehender Wolf und der sich sowohl mit Wölfen als auch mit Menschen mühelos verständigen kann oder die Fischmenschen, die sowohl Lungen- als auch Kiemenatmer sind, mühelos Jahre unter Wasser verbringen und unter anderem keine Taucherkrankheit mehr kennen. Es ist diesternförmige Radiation, die Stanislaw Lem als Bestandteil der Evolution beschrieben hat und die wir nun selbst in die Hand nehmen.
Das Motiv ist so einfach, dass man es fast schon primitiv nennen könnte: Viele Leute, auch solche, die sich selbst (noch) nicht umgewandelt haben, finden einen Wolfsmann attraktiv, was wohl aus dem Werwolf-Mythos resultiert und da er zum Sex mitnormalenMenschen in der Lage ist, können sie auch direkt herausfinden, ob ihre Erwartungen erfüllt werden. Wenn das nicht der Fall sein sollte, hat man auch nichts verloren, der Vorteil liegt darin, dass man es ausprobieren kann.

Das wäre mit Menschen niemals zu schaffen, daher sei es utopisch?
Nun, alles ist relativ. Mit den Menschen, die Philipp Reis für die Erfindung des Telefons ausgelacht haben und Carl Benz für die Erfindung des Autos, wäre es in der Tat nicht machbar gewesen, mit den Menschen der Jahre 1900, 1950 oder 2000, die nur in Boulevard-Schlagzeilen dachten, ebenso wenig.
Es gab nur eine Abhilfe: Maschinen. Die wenigen intelligenten Menschen überall auf der Welt stützten sich auf Maschinen, die es nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte und die Strategen jener Epoche, die Wirtschaft, die Politik deraufstrebenden Schwellenländerebenfalls. Jean Pauls SatireDer Maschinenmannaus dem Jahre 1796 war auf eine Weise realisiert worden, die sich der Autor nicht hätte träumen lassen und das erzeugte eine gewaltige Rückkopplung auf die menschliche Mentalität.
Schon zum Ende des 20. Jahrhunderts hin hatten alte Leute mit sprachlosem Erstaunen gesehen, wie Märchen wahr wurden, jahrzehntelang als Science Fiction verspottete Dinge vor ihren Augen real und im 21. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo immer mehr.
Oh, wie waren sie neidisch gewesen auf die Jüngeren, deren Träume jetzt einfach so in Erfüllung gingen!
Ich selbst hatte mir immer viele, viele Bücher gewünscht und alles Gedruckte hatte diese Gier nicht zu stillen vermochtaber dann kam das Internet und gab mir für einige Mausklicks so viel Lesestoff, wie ich nur verschlingen konnte und noch mehr oben drauf. Oder Filmewar ich nicht verrückt gewesen nach alten Kung-Fu-Filmen der 1960er, nach Action und Schiessereien? Nach bestimmten Musikvideos, SciFi, alten Komödien und Dokumentationen? Alles das erschien seit denNuller-Jahrennach und nach auf diversen Websites und noch mehr, nämlich Walkthroughs von Shooter-Spielen, die mir pure Action lieferten, bis ich nicht mehr konnte.

So ging es jedem. Es war im 19. und 20. Jahrhundert, ja noch zu Beginn des 21. als unanfechtbare Wahrheit verkauft worden, dass Menschen Märchen bräuchten, die für immer unrealisierbar sein würden, weil es das sei, was uns zu Menschen mache.
Wohlwollend ausgedrückt, hatten die Befürworter dieser Idee überhaupt nichts verstanden. Es spielt keine Rolle, ob der Input für unsere Gehirne ausrealenodersimuliertenEreignissen kommt, so lange er nur da ist. Wir haben dank unserer IQs von 200 und mehr gelernt, mit derReizüberflutungumzugehen wie das elisabethanische Zeitalter mit Shakespeare und es ist weiter nichts dran.

Nachdem in dieser Weise unsere Bedürfnisse befriedigt worden waren, fingen wir an, auf dem selben Weg die Welt zu verbessernwir probierten aus, was man mit den Maschinen sonst noch anstellen könnte und der Rest ist Geschichte. Die Mentalität der Menschen veränderte sich, als sie merkten, wozu sie nun fähig waren, ihr Selbstvertrauen wuchs und ihre Gier dehnte sich auf neue Bereiche aus. Veränderte, denen das Sol-System zu langweilig wurde, nachdem sie bei der Besiedelung des Enceladus Pionierarbeit geleistet hatten, zogen weiter nach draussen, zu den Sternen, die viele Lichtjahre entfernt sind. Ihre unsterblichen und ewig jungen Körper erlaubten ihnen das ohne Weiteres, obwohl man noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts behauptet und geglaubt hatte, dass die menschliche Sterblichkeit eine Jahrzehnte oder Jahrhunderte lange Reise durch den Raum unmöglich machen würde. Unsere hochgerüsteten Körper sterben eben nicht mehr, Thema erledigt.

Stanislaw Lem hat in seinersumma technologiaevon 1964, in der er weiter vorausblickte als jeder andere Mensch seiner Zeit, auch die Frage aufgeworfen, was denn geschehen würde, wenn mit fortschreitender Technik alle denkbaren Bedürfnisse befriedigt wären.Soll man neue Bedürfnisse erschaffenund wenn ja, welche?
Es stellte sich heraus, dass man sie nicht explizit schaffen musste, denn die Veränderungen, denen wir unsere Körper unterzogen, führten automatisch zu anderen Bedürfnissen. Es fing an mit mehr Energie und mehr Rohstoffen, ging über zu stärkeren sexuellen Stimuli und intensiverer Musik, einer veränderten Philosophie usw., alles wie von selbst. Da es keinerlei materielle Knappheiten mehr gab, war die Befriedigung dieser Wünsche eine Kleinigkeit.

Und nun? Was wird in der Zukunft werden?
Mit dieser Frage befassen wir uns im Jahr 2030 kaum mehr. Früher wurden Ängste wie Hoffnungen in die Zukunft projiziert, aber auch dieses Bedürfnis erschöpfte sich und 2010 war die Science Fiction so tot, wie sie nur sein konnte. Es wurden auch danach noch Geschichten geschrieben, Filme und Spiele produziert, die man diesem Genre zurechnet, aber sie bedeuteten nichts mehr, weil jede mögliche Zukunftsvision schon des Langen und Breiten ausgesponnen war und man nur noch Wiederholungenkreierte, die schliesslich langweilig wurden.
Schon dass ich für diesen Text hier Jahreszahlen benutze, ist nur mehr eine Art Nostalgie, denn man braucht sie nicht mehr wirklich. Die Maschinen zählen noch, messen noch das Verstreichen der Zeit, sonst niemand. Wir wissen wohl, dass in sechs Jahren ein Asteroid namensApophisseine erdnächste Position erreichen sollte und mancher erinnert sich mit Schmunzeln an den Versuch der damaligen Massenmedien in den Nuller-Jahren, daraus eine Horrorgeschichte zu machen, aber fürchten können wir uns heute nicht mehr, denn eine Flotte aus robotischen Raumschiffen ist bereits auf Abfangkurs und wird diesen Felsbrocken vernichten, ehe er uns zu nahe kommt. Wir glaubten früher auch, dass wir vor der nächsten Eiszeit von der Erde weg müssten, wenn wir nicht erfrieren wollten, aber in der Wirklichkeit haben wir sogar zwei Möglichkeiten, nämlich einmal durch Geoengineering diese Eiszeit zu verhindern oder in grossen Generationenraumschiffen, die wir spielend bauen können, irgendwo sonst im Universum weiterzuleben.

Wir existieren einfach nur, während uns die Maschinen alles geben, was wir wollen. Leben in einer Welt ohne Arbeit, wie sie schon manche Philosophen als die ideale ansahen und heute kann jeder ein Philosoph sein.
Wer statt dessen ein Held sein will, bitte, das Universum ist gross genug für Heldentaten jeglicher Art, so lange man dabei die friedlichen Leute in Ruhe lässt.




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