Sonntag, 26. April 2015

Leben 2020 - Teil 3

Der folgende Text steht unter Creative Commons License C C 0 (c c zero) und ist damit
public domain.
Alle Szenarien basieren auf Technik, die bereits existiert.

Mittwoch
0603 Heute besuche ich eine Roboterfabrik, um meine neue Freundin abzuholen. Ich hatte zwar schon einige Affären, aber noch nie eine dauerhafte Beziehung, weil menschliche Frauen für meinen Geschmack zu kompliziert sind. Selbst wenn es nur um etwas Einfaches wie Sex geht, machen sie gleich eine Haupt- und Staatsaktion daraus und versuchen Bedeutungen hineinzulegen, an die ich nie gedacht hätte.
Da ich das ohne Emotionsblocker entsetzlich nervig finde und keine Lust habe, es mir auch noch im Privatleben einzuhandeln (im Job erlebe ich es jeden Tag), habe ich eine Androidin konstruieren lassen, die meine Kriterien einer Traumfrau erfüllt.
Kaltherzigkeit? Flucht vor der Realität? *grins* Ihr habt Maria noch nicht gesehen. Sie ist alles andere als kalt und so real, wie etwas nur sein kann.
Äusserlich gleicht sie einer menschlichen Frau, hat aber die Vorzüge, niemals Migräne zu bekommen, niemals alt oder eifersüchtig zu werden und sich nie zu langweilen, auch wenn man ihr noch so viel Unsinn erzählt.
Und sie ist wunderschön. Bei der Gestaltung ihres Körpers habe ich mich von einigen alten Gemälden und Statuen inspirieren lassen, wobei ich allerdings darauf geachtet habe, keine blosse Kopie irgend einer Abbildung zu schaffen, sondern ein individuelles Wesen.
Wenn nun allerdings andere Leute Maria so perfekt finden sollten, dass sie sie einfach nur kopieren wollen, kann ich sie nicht daran hindern, denn die Technologie ist Open Source.

Die Ingenieurin, die Maria gebaut hat, beobachtet mit mütterlichem Stolz, wie ich ihr Geschöpf mit einem Kuss aufwecke. Das ist zwar technisch nicht erforderlich (genauso wenig wie meine persönliche Anwesenheit, denn ich hätte auch per Internet bestellen können und sie wäre zu mir nach Hause gekommen), aber ich mag diese romantische Geste. Was kümmert es mich, dass Maria eine Maschine ist? Sie gibt mir das, was ich will, egal ob ihre Zärtlichkeit, mit der sie den Kuss erwidert, auf biologischen oder digitalen Funktionen beruht.
Jetzt erhebt sie sich von der Liege, auf der sie scheinbar schlief, als ich eintrat (in Wirklichkeit braucht eine Maschine natürlich keinen Schlaf). Sie ist schlicht gekleidet – eine weisse Bluse mit „Native Americans“-Motiven, ein langer bordeauxfarbener Rock und Wildlederstiefel – sieht aber dadurch nur um so atemberaubender aus. Sie ist so gross wie ich und muss den Kopf nicht zurücklegen, um mir in die Augen zu sehen. Ihre honigfarbene Haut ist, wie meine künstlichen
Augen mit einem raschen Scan feststellen, bis auf Nanometer-Ebene makellos, die vollen schwarzen Haare fallen ihr offen über die Schultern, in ihren blauen Augen funkeln Humor und Intelligenz und das Lächeln in ihrem schmalen aristokratischen Gesicht mit den hohen Wangenknochen ist eine Verheissung ungeahnten Glücks, so dass ich am liebsten gleich hier über sie herfallen würde.

Die Ingenieurin grinst breit, als sie mein Gesicht sieht. Dann umarmt sie Maria zum Abschied und wir verlassen Hand in Hand die Fabrik und steigen in mein robotisches Auto. Da ich nicht viel von Äusserlichkeiten halte, ist es nur ein kleines Elektrofahrzeug, wie es die Grossreplikatoren in jedem Stadtteil gratis ausspucken, freilich mit einer gegenüber früher wesentlich grösseren Reichweite und seine Chips haben es in sich: es kann komplett selbstständig fahren, natürlich unfallfrei für die Ewigkeit, so dass wir Passagiere es uns nur noch auf dem Rücksitz gemütlich machen müssen.
„Nach Hause, Geoffrey.“
„Sehr wohl, Sir“, bestätigt die KI des Wagens mit sonorer Stimme.
Während der Fahrt beginne ich Maria erneut zu küssen. Sie geht sofort auf mich ein und gibt mir das Gefühl, sie hätte nur auf mich gewartet.

0648 Als wir ins Haus treten, will ich nicht länger warten. Ich zerreisse Marias Rock und nehme sie auf dem Wohnzimmerteppich. Ihre hyperfeine Sensorik passt sich mir perfekt an und verschafft mir das leidenschaftlichste Liebeserlebnis, das ich mir je vorstellen konnte.
Den Rest des Tages verbringen wir fast ausschliesslich im Bett und Maria zeigt mir einige Dinge, die bisher nicht vorstellbar waren. Stellt euch eine Frau vor, die im Besitz aller Erkenntnisse ist, die je über Sex gewonnen wurden und gleichzeitig so feinfühlig, dass sie ihren Partner nach einigen Stunden besser kennt als dieser sich selbst. Unter anderem kann sie sexuelle Lust objektiv messen und verwendet dabei eine verfeinerte Version jenes Verfahrens, das israelische Forscher im Januar
2005 vorstellten.

Auf der rein logischen Ebene meines Denkens weiss ich natürlich, dass Maria keine Gefühle empfindet, sondern sie „nur“ simuliert, aber meine eigenen Gefühle haben entschieden, dass das egal ist. Maria Westfield, wie ich sie mit vollem Namen genannt habe, wird mich für alle Ewigkeit begleiten, wenn ich das will und sie wird sich immer wieder an mich anpassen, wenn ich mich weiterentwickle. Deshalb wird es zwischen uns auch nie einen Konflikt geben, denn sie ist einerseits wie ein Teil von mir und funktioniert wie eine Erweiterung meiner bisherigen Implantate, andererseits aber auch eine hyperintelligente und hochgebildete eigenständige Persönlichkeit, die ohne mich zurechtkommen kann. Wann immer ich sie brauche, ist sie für mich da, brauche ich sie nicht, hält sie sich zurück. Sie wird mir nicht nur das Bett wärmen, sondern mich in allen Lebenslagen unterstützen, wie es der grosse Licklider, J. C. R., einst prophezeite: „Die Maschine wird Partner des Menschen im Problemlöseprozess“ (Man-Computer-Symbiosis, 1960).

Ob Licklider je geahnt hat, was dieser Satz in letzter Konsequenz bedeuten würde?

Donnerstag
0558 Maria begibt sich auf Recherche in Sachen Felicia Wyrmberge, das ist Melbars Angebetete (kein Witz, die Familie hat sich tatsächlich nach der Wortschöpfung von Terry Pratchett benannt und ein Heidengeld für den Namen bezahlt). Der Grund dafür ist, dass wir herausfinden müssen, wie diese Frau zu dem ganzen Fall eingestellt ist und welche Punkte Melbar vielleicht an ihr übersehen
hat, um das in unser weiteres Vorgehen einzuplanen.
Dazu reichen reine Online-Aktivitäten nicht aus, das hat Maria festgestellt, während ich mich heute nacht ausschlief. Mit manchen Leuten muss man immer noch persönlich sprechen.
Während des Frühstücks haben wir mein Profil bei Lifehelp um Marias Auftritt erweitert und eine Nachricht hinterlegt, dass wir bis auf Weiteres ausgelastet sind und keine weiteren Klienten mehr annehmen können. Maria weiss über mich und meine Arbeit natürlich Bescheid, denn ich habe ihr bereits gestern via Implantat alle Daten übermittelt.

Während sie unterwegs ist, kümmere ich mich um den nächsten Termin mit Bernd, dem Otaku vom Montag.
Heute rückt er mit seinen sonstigen Sorgen heraus. Nach unserem letzten Gespräch konnte er die halbe Nacht nicht schlafen, weil er ständig darüber nachdenken musste, wie er mit den unzureichend entwickelten Teilen seiner Persönlichkeit umgehen soll, nachdem ich ihm dieses Defizit einmal aufgezeigt hatte.
Gemäss dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe mache ich ihm nun zwei Dinge klar: zum einen, dass er nichts überstürzen soll, sondern Geduld braucht und zum anderen, dass er sich nicht in eine Abhängigkeit von mir begeben muss, um seine Probleme zu lösen, sondern sich das selbst erarbeiten kann. Ich baue ihm die erste Brücke und beziehe ihn dabei ein, damit er lernt, sich selber welche zu bauen.

1428 Als Maria zurückkommt, verliert Bernd für eine Minute und 47,39 Sekunden den Faden und schluckt schwer. Ich muss grinsen, als ich daran denke, dass ich gestern in der Fabrik wohl ähnlich ausgesehen habe. Kein Wunder: Auch wenn sie sich für den Job in eine schlichte Kombination von „Jil Sander reloaded“ geworfen hat, ist Maria immer noch eine Granate von Frau.
Ich begrüsse sie mit einem Kuss und weiss ohne Hinsehen, dass dem armen Bernd fast die künstlichen Augen aus dem Kopf fallen. Wie denn, was denn – sein grosser Mentor, denn so sieht er mich mittlerweile, ist ein menschliches Wesen mit Gefühlen?

Das bringt mich auf eine neue Idee. Vielleicht braucht Bernd ja auch eine/n Freund/in. Bisher ist er ein Arbeitstier und nicht gerade für seine Gefühlstiefe bekannt. Aber wenn er lernt, auch mal loszulassen und sich zu entspannen, könnte eine Beziehung oder auch „nur“ Sex ganz nützlich sein, um ihm zu zeigen, dass es eine Welt jenseits der Arbeit gibt.
Der Gedanke wird einstweilen unter „potenzielles weiteres Vorgehen“ abgespeichert.
„Und?“, frage ich Maria leise.
„Später“, antwortet sie ebenso diskret.
Also hat sie nichts Dringendes, sondern möchte, dass ich mich zuerst um den aktuellen Klienten kümmere. Vernünftig.

Der Klient nimmt gerade einen grossen Schluck Eiswasser und starrt Maria hinterher, als sie sich zurückzieht.
Als er mich wieder ansieht und nach Worten sucht, komme ich ihm zu Hilfe.
„Maria Westfield, meine neue Partnerin.“
„Mein Gott“, murmelt Bernd, „ich habe ja die Lifehelp-News gelesen, aber sie in echt zu sehen...“
Er zögert, setzt von neuem an.
„Ich meine ... na ja, sie ist einfach ... umwerfend. Sie haben sie von Eurasia Cybernetics, nicht wahr?"
Ich muss erneut lächeln. Er benimmt sich jetzt wie ein kleiner Junge, der das schönste Spielzeug seines Lebens gesehen hat.

Ich beschliesse, ihm die Zeit, in der wir über Maria sprechen, nicht in Rechnung zu stellen, denn es schmeichelt meiner Eitelkeit, dass er sie bewundert.
Wir reden nun sowohl über meine Gefährtin als auch über Beziehungen und Sex im Allgemeinen, schliesslich wird ihm das jedoch unangenehm. Er fragt, ob er mich nicht von wichtigeren Dingen abhält, aber anscheinend ist das gar nicht das, was er meint, denn meine Antwort „Bernd, Sie sind mein Klient und damit das Wichtigste, was es momentan gibt“, hält ihn nicht davon ab, sich nun recht schnell zu verabschieden. Er hat offenbar das Gefühl, in meine Privatsphäre eingedrungen zu sein.
Klar, nachdem er einmal die Augen für die nicht-technischen Seiten des Lebens geöffnet hat, sind Minderwertigkeitskomplexe eine natürliche Reaktion auf die Vielfalt der Welt.
Notiz im Hinterkopf: Beim nächsten Mal auf diesen Punkt eingehen.

1534 Ich begleite Bernd zur Tür und gehe dann ins Schlafzimmer, wo Maria auf mich wartet. Sie lässt sich von mir ausziehen und ich tue es diesmal langsam und mit Genuss, denn sie hat eingekauft: handgefertigte Dessous aus königsblauer Seide umschmeicheln ihren Körper und heben ihre Schönheit noch mehr hervor.

Eine Stunde später teilt sie mir das Ergebnis ihrer Recherchen mit. Felicia Wyrmberge scheint in Ordnung zu sein. Natürlich stinkreich und verwöhnt, aber kein schlechter Mensch.
Maria hat unter anderem eine ausgemusterte Klatschkolumnistin namens Thanner besucht, die sich früher darauf spezialisiert hatte, oberflächliche „Psychoprofile“ über Leute aus der High Society zu verfassen; jene Art von Quatsch, den viele Käufer anscheinend ständig lesen, sehen und hören wollen. Dann hat man das Talent dieser Frau digitalisiert und nun machen die Maschinen ihren Job.
Sie muss deswegen nicht am Hungertuch nagen, aber es verbittert sie, dass eine Software besser sein soll als sie.
Maria hat den tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex Thanners, den diese nur nach aussen auf die Maschinen projiziert hat, schnell erkannt und während des Gesprächs im Hinterkopf eine Analyse durchlaufen lassen, ob wir ihr helfen können. Ergebnis: wir können, aber sie muss auch bereit sein, die Hilfe anzunehmen. Das wird für eine potenzielle spätere Verwendung abgespeichert.

Bei einem Gespräch von Frau zu Frau, bei dem Maria einstweilen nicht erwähnte, dass sie selbst eine Maschine ist, hat sich Thanner erst einmal ausgeweint, ehe sie auf die Fragen meiner Gefährtin einging.
„Ja, die kleine Feli. Man hat sie so genannt, weil sie nach dem chinesischen Horoskop eine Katze ist. Ein gutes Mädchen – aber wenn ihr was nicht gefällt, zeigt sie auch schnell die Krallen, Nachgiebigkeit und Geduld werden Sie bei ihr vergeblich suchen.
Natürlich hochkultiviert, ein Talent in klassischer Poesie und Musik, malt hervorragend und beherrscht Kalligraphie, Origami und Ikebana. Aber zusätzlich kennt sie sich in Management und Finanzmathematik aus und im Umgang mit Blankwaffen – die Wyrmberges gehören zu den Gründerfamilien der Europäischen Fechtakademie und haben ihre Gene entsprechend optimiert. Feli hat einen Kommentar zu Musashis „Go rin no sho“ geschrieben und von Hand Drei-D-Illustrationen zu einer Neuausgabe von „Thalhoffers Fechtbuch“ geschaffen – Sie sollten sich die einmal ansehen, sie sind wirklich gut...
...Beziehungen? Wohl kaum. Sie hatte zwar einige Affären mit standesgemässen Leuten, aber nie etwas Festes. Und ihr Onkel Herbert, das Familienoberhaupt, hat natürlich ein Wörtchen mitzureden. Er will, dass sie eine gute Partie macht, wenn sie denn einmal heiraten sollte. Aber weiss Gott – Heiraten heutzutage? Das glaube ich erst, wenn ich es sehe...
...Natürlich ist der Onkel schwer auf dem Traditionstrip. Es ist wie mit dem ‚Bahnhofs-Adel‘ im letzten Jahrhundert – gerade die Neulinge in diesen Kreisen halten sich strikt an alle Formen und Klein Herbie ist ein Emporkömmling par excellence. Das erwähnt man zwar höflicherweise nicht, aber er kommt von ziemlich weit unten und will das wohl auch kompensieren, wenn er sich
manchmal päpstlicher als der Papst aufführt.
Sie lachen, meine Liebe? Ich weiss, es klingt spassig, aber lassen Sie sich nichts davon anmerken, wenn Sie ihm mal persönlich begegnen sollten. Er könnte sich beleidigt fühlen und Sie zum Kampf herausfordern. Es wäre schade, wenn er Ihnen Ihr schönes Gesicht aufschlitzt.“

Das ist nicht übertrieben, denn für den Adel und Neo-Adel des 21. Jahrhunderts sind auch Frauen satisfaktionsfähig. Manche Damen tragen ihre Duellnarben sogar mit Stolz und lassen sie bewusst nicht entfernen.

Thanner hat sich nicht einmal gewundert, warum Maria diese Dinge wissen wollte. Es hat ihr nur gut getan, das sie mal wieder gefragt war.
Hmmm – könnte Lifehelp vielleicht eine Verwendung für die Talente dieser Frau haben? Hat sie in ihrem kultivierten Selbstmitleid vielleicht noch gar nicht daran gedacht, sich dort oder anderswo zu bewerben und damit ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben? Ihr robotischer Butler hätte sie natürlich darauf hinweisen können, aber es passt zu ihrem übrigen Profil, dass sie ihn auf das Minimum an selbstständigem Denken einstellen liess, so dass er nur zum schweigsamen Dienen
taugt – anders als Paulchen oder Maria, denen ich eigene Ideen erlaube.

Wir geben dem Human Ressources-Management via Internet einen entsprechenden Hinweis. Demnächst wird sich eine Talentprüfungs-Software mit Thanner befassen.


1703 Das weitere Vorgehen ergibt sich aus den gesammelten Informationen. Wir müssen uns im Namen unseres Klienten an den Familienpatriarchen heranmachen und ihn dazu bringen, Melbars Bemühungen um seine Nichte zu tolerieren.
Dabei verfahren wir nach den Spielregeln des Adels, d.h., ich werde ein Schwertduell mit Herbert Wyrmberge austragen. Gewinnt er, vertreten wir Melbar gegenüber der Familie nicht mehr und der Junge hält sich von ihr fern. Gewinne ich, kann Melbar ohne Gefahr mit Felicia Kontakt aufnehmen und sehen, wie weit er kommt.

Ich weiss, dieses Szenario ist nicht gerade neu und seit den Nibelungen vielfach variiert worden, aber da ich von vornherein mit offenem Visier kämpfe und nicht vorgebe, Melbar zu sein, hoffe ich, dass es diesmal nicht so dämlich ausgeht wie einst bei Siegfried, Gunter und Brunhild.

Natürlich kann nicht einfach jeder zu Onkel Herbert hineinspazieren und ihn fordern. Vielmehr werden wir zuerst eine Reihe von Kämpfen mit seinen Subalternen austragen und wenn wir die gewinnen, haben wir uns nach den Spielregeln als „würdig“ erwiesen, selbst mit dem grossen Boss zu sprechen.

Weiter könnte man meinen, im Zeitalter der aufgerüsteten Körper wären Zweikämpfe lächerlich, weil man sich die nötige Fitness einfach einbauen kann und dann unbesiegbar ist, aber so weit können die Schwertfreaks auch denken. Um ihren Sport zu retten, haben sie sich einiges einfallen lassen wie Kämpfe unter Wasser und das nicht etwa im Swimmingpool, sondern im freien Ozean oder bei reduzierter Schwerkraft in den Raumhabitaten. In solchen Situationen ist rohe Kraft wertlos und es kommt wieder wie in den alten Zeiten auf Geschicklichkeit und Kampfgeist an.

Für mich heisst das: trainieren. Maria weiss und kann zwar alles, was physisch möglich ist, ich jedoch nicht, also nehmen wir vier Katanas aus meiner Sammlung, eines in jede Hand nach der Nito-ichi-ryu („Zwei-Schwerter-Schule“ Miyamoto Musashis) und toben zunächst einige Stunden im Garten herum, wobei meine Partnerin mich gnadenlos an meine Grenzen treibt. Es ist ein grossartiges
Gefühl und als sie mir schliesslich alle Tricks und Kniffe gezeigt hat, die in ihren Speichern abgelegt sind – Mitternacht ist schon vorbei – möchte ich am liebsten gar nicht mehr aufhören zu kämpfen. Auch dies ist wieder eine der Gelegenheiten, bei denen ich in aller Klarheit spüre, wie sehr mein neuer Körper dem alten, nur-biologischen, überlegen ist. Bis vor wenigen Jahren habe ich bei der
geringsten Anstrengung fürchterlich geschwitzt und nach einem 3000-Meter-Lauf oder einer halben Stunde Kampftraining war ich so fertig, dass ich nur noch sterben wollte.
Jetzt dagegen bin ich nach sieben Stunden ununterbrochener Waffenübungen immer noch fit. Kein Tropfen Schweiss zeigt sich auf meiner Haut, denn die Implantate sorgen für eine gleichmässige, trockene Wärmeabgabe und ich habe keinerlei Atemprobleme.

Samstag, 25. April 2015

Leben 2020 - Teil 2

Der folgende Text steht unter Creative Commons License C C 0 (c c zero) und ist damit
public domain.
Alle Szenarien basieren auf Technik, die bereits existiert. 


Montag
Uhrzeit: 0500 Meine Kopfimplantate schicken einen Weckimpuls durch den Körper, aber so einfach bin ich nicht zum Aufstehen zu bringen. Obwohl hellwach, räkele ich mich noch zwei Minuten und 17,49 Sekunden im Bett.
Erst dann rappele ich mich auf und gehe ins Bad. Die unsichtbaren Wellen der Ultraschalldusche spülen alle Rückstände von meinem Körper, die im Laufe der Nacht gebildet und von meinen Implantaten an die Hautoberfläche transportiert wurden. Mittlerweile kann ich mir dadurch sogar das Zähneputzen der alten Zeit ersparen und rasieren muss ich mich ohnehin schon lange nicht mehr, da mein Bartwuchs vollständig eliminiert ist.

0514 Mein intelligenter Schrank öffnet sich automatisch, als ich wieder aus dem Bad komme – er hat sich darauf trainiert. Nanobionisch produzierte Seide scheint beim Anziehen über meinen Körper zu fliessen und passt sich von selbst allen Konturen an. Dann verbinden sich die Moleküle an den offenen Kanten auf der Vorderseite miteinander, was Knöpfe und Reissverschlüsse überflüssig macht. Zusätzlich verfügt moderne Kleidung über nette Features wie erhöhte Reissfestigkeit, eine Schmutz und Regen abweisende Oberfläche und ausreichend Speicherkapazität für ein komplettes Backup meiner internen Systeme, dennoch ist sie leicht und bequem.

Äusserlich sieht man ihr das allerdings nicht an, sondern ich bevorzuge ein schlichtes, schwarzes Design, weil ich darin am besten aussehe. Natürlich wären auch korrekte, mehrteilige Maßanzüge möglich, die heutzutage von Maschinen in einer enormen Vielfalt hergestellt werden, aber ich wäre wohl zu phantasielos, um dieQualität dieser Stücke zu schätzen, immerhin bin ich nur ein Mensch.

Das ist nicht ohne Ironie. Theodor Heuss (1884 – 1963), ehemals Bundespräsident, hat gesagt „Eines Tages werden Maschinen vielleicht denken, aber sie werden niemals Phantasie haben.“ Ich habe diesen Mann nicht gekannt, nur so viel ist sicher: von Maschinen verstand er nichts, denn „Denken“ und „Phantasie“ sind eins.

0518 Der Replikator (Küchenautomat, eine Weiterentwicklung des klassischen „Digital Fabricator“alias „3 D-Drucker“) spuckt auf Gedankenbefehl, der ihm drahtlos übermittelt wird, einen grossen Cappuccino und krümelfreie Croissants mit Käsefüllung aus. Viele Leute halten sich aus nostalgischen Gründen oder aus Spass am Kochen immer noch eine klassische Vollküche, aber ich bin in dieser Hinsicht zu pragmatisch (andere sagen „kulturlos“): ich möchte nur satt werden.
Deswegen besteht meine „Küche“ lediglich aus einem Gebilde, das an die alten „Kühl- und Gefrierkombinationen“ erinnert: zwei Meter hoch, anderthalb Meter breit, mit einem Ausgabefach für die bestellten Delikatessen und einer Klappe für gebrauchtes Geschirr, das automatisch gereinigt wird.
Dieses Gerät steht in meinem Haus zwischen Büro- und Wohnbereich, damit ich jederzeit bequem Zugriff darauf habe. Wenn ich gerade anderweitig beschäftigt bin, kann ich Paulchen losschicken, meinen Serviceroboter, der mir das Gewünschte bringt.
Während ich die ersten Bissen hinunterschlinge, wecke ich mit einem weiteren Gedanken meinen vernetzten Schreibtisch. Für das Durchsehen der Post bleibt das grosse 360-Grad-Panorama noch ausgeschaltet, nur ein kleines Fenster direkt vor meinem Gesicht öffnet sich, zumindest sieht es für mich so aus. In Wirklichkeit werden die Informationen direkt in meine künstlichen Augen projiziert.
Manche Leute haben sich ja ihre Köpfe so modifizieren lassen, dass sie die Post ganz ohne Schreibtisch bearbeiten können, aber das bietet ungefähr soviel Komfort wie früher mit einem WAP-fähigen Mobiltelefon im Netz zu surfen. Ich zog damals meinen Laptop der WAP-Technologie vor und heute den Schreibtisch den Implantaten – es ist (noch) die bequemere Lösung.
Das interplanetare Datennetz trägt übrigens immer noch den alten Namen: Internet. Alle Vorschläge für eine Alternative, von „Evernet“ über „Matrix“ und „Web 3.0“ bis „Outernet“ konnten sich nicht durchsetzen.

Allerdings hat sich technisch einiges geändert: Computerviren, Trojaner und andere Ärgernisse gibt es nicht mehr, weil die Maschinen heute intelligent genug sind, um schon die Erschaffung solcher Schädlinge zu verhindern und wir haben auch keine Provider mehr, weil sie überflüssig geworden sind. Das „Internet der Dinge“, besser gesagt, das der „intelligenten Dinge“, erhält sich selbst, repariert sich selbst und kann sich auf Wunsch auch selbst erweitern.
Bedeutet das, es „lebt“? Keine Ahnung, denn eine plausible Definition von „Leben“ gibt es nicht. Ich neige zu der Ansicht, dass dieses Wort schlicht ein Irrtum ist, weil man irgendwann in grauer Vorzeit einmal eine ganze Reihe von damals unverständlichen Abläufen mit dem Sammelbegriff „Leben“ bezeichnete und dass diese Wortschöpfung uns über Jahrtausende den Blick vernebelte. Das Netz
funktioniert und damit bin ich zufrieden. 

0554 In der Post war nicht viel Interessantes dabei. Meine Schreibtisch-KI filtert Spam automatisch aus, der Rest sind einige berufliche Dinge und *seufz* ein Steuerbescheid. Tja, bei allem Fortschritt – den Staat sind wir noch nicht losgeworden. Wahrscheinlich sind wir auch zu barbarisch, um ohne irgendein übergeordnetes System in Frieden zu leben, denn es gibt immer noch
Verbrecher auf der Welt.
Immerhin haben wir inzwischen die globale Demokratisierung erreicht, mit dem Ergebnis, dass Staaten keine Kriege mehr gegeneinander führen. Wer heute einen Krieg beginnt, stellt sich ausserhalb jeder zivilisatorischen Ordnung – ein später Triumph für die Bemühungen der Vereinten Nationen. Des weiteren hat der Staat nur noch die Aufgabe einer Ordnungsmacht, d.h. er existiert nur noch in Form von Polizei und Justiz. Die umfangreiche Einflussnahme auf das sonstige Leben,
die Tausende von Jahren für staatliche Tätigkeit charakteristisch war, gibt es heute entweder gar nicht mehr oder sie wird privat organisiert – von Konzernen wie auch von Gurus aller Art. 
Auch in der Politik gibt es einen Hoffnungsschimmer: Man diskutiert darüber, die Regierungsgewalt auf KIs zu übertragen und damit die Welt von dem Ärgernis menschlicher Staatschefs zu befreien. Wir müssten nur noch die Politiker von dieser Idee überzeugen.

0559 Das erste Klientengespräch. Ich habe mich zum Psychologen und Historiker weitergebildet und kümmere mich bei ersterem Job in der Firma Lifehelp Consulting um Leute, denen meine berufliche Schweigepflicht allein nicht genügt. Sie wollen zusätzlich die Anonymität des Netzes, um sich aussprechen zu können.
Die Kontaktaufnahme ist simpel: Man besucht die Lifehelp-Site im Internet, die eine Kombination aus Wartezimmer und Auskunftei darstellt. Dort sucht man sich einen Spezialisten für das jeweilige Problem, wobei man von der System-KI unterstützt wird und wählt aus, worüber man sprechen möchte, ob mit einer Frau, einem Mann oder einer KI, in welcher Sprache sowie die Art der Kommunikation (verbal, schriftlich, visuell oder alles kombiniert), ob man via Internet bedient  werden will (das ist die kostengünstigste Version), persönlich bei uns hereinschaut (was immer noch bei vielen Leuten als Standard gilt) oder die Lösung sogar per Hausbesuch erarbeitet bekommt (das fällt dann unter Premium-Paket). Wenn niemand frei ist, kann man über die KI einen Termin vereinbaren, Nachrichten hinterlassen oder weitere Informationen einholen. Möglichkeiten zum Austausch mit anderen Klienten, Selbsthilfegruppen usw. sind gegeben und das Ganze geht
selbstverständlich rund um die Uhr.
Die Palette unserer Dienstleistungen reicht dabei von Psychologie über Rechtsberatung, Butler-, Banker- und Sekretariatsservices bis zu Feng Shui. Anders
ausgedrückt, wir haben die früher auf Dutzende von Firmen verstreuten Dienstleistungen unter einem Dach gebündelt. Möglich wurde das durch eine Kombination von Google-, Linux- und Wiki-Erfahrungen, verbesserter CRM-Software und Ubiquitous Computing.

Die Person (ob männlich oder weiblich, lässt sich zunächst nicht feststellen), mit der ich jetzt „spreche“, verwendet nicht einmal Sound. Sie schickt lediglich Text, der auch noch mit Schreibfehlern behaftet ist, was mir sagt, dass sie eine Tastatur verwendet. Das kann zweierlei  bedeuten: entweder sie hat gar keine Implantate oder sie fürchtet sich davor, durch die Verwendung von Implantaten identifiziert zu werden (Gerüchte über
einen angeblichen „elektronischen Fingerabdruck“, der bei jeder Verwendung von Implantaten entstehen soll, halten sich seit Jahren).
Ich gehe auf die Klientenperson ein und antworte ebenfalls nur mit Text, den ich allerdings über meine Kopfimplantate formuliere und an den Schreibtisch sende. Dessen KI macht fehlerfreie Sätze daraus.

0917 Die Klientin (sie identifizierte sich selbst als Sabrina, was stimmen kann, aber nicht muss), bedankt sich bei mir: Ich wäre der erste, der ihr so lange zuhörte. Sie hat sogar Sound zugeschaltet, als ihr die Finger vom Schreiben weh taten, allerdings mit einem Stimmenverfremder, der sie so blechern klingen liess wie einen alten Filmroboter. Ich sage bewusst „alt“, denn moderne Roboterstimmen sind längst sehr angenehm moduliert und mindestens ebenso facettenreich wie menschliche.
In den nächsten Stunden folgen noch zwei weitere zahlende Klienten sowie einer, den ich im Rahmen eines städtischen Sozialprogramms kostenlos betreue, was mir einen Steuervorteil verschafft.

Wie ich derartige Gespräche aushalte, ohne durchzudrehen? Ganz einfach, zu meinen Implantaten gehört auch ein Emotionsblocker, mit dem ich das Gefühl der Langeweile, das mich normalerweise in solchen Situationen überkommt, komplett abschalten kann. Das war zwar die teuerste Komponente des gesamten Systems, aber es hat sich gelohnt, denn nun kann ich mich voll und ganz darauf konzentrieren, das Problem des Klienten zu lösen, auch wenn die jeweilige Situation noch so
monoton ist.
Es war nämlich nicht etwa ein Mangel an Kraft, der uns früher einschränkte, sondern es waren Emotionen wie Langeweile. Als die Neurokybernetik diese hinderlichen Gefühle ausschaltete, verdoppelte sich unsere Leistungsfähigkeit und alle hysterischen Prophezeiungen, dass „so etwas“ zu einer „Katastrophe“ führen würde, haben sich als falsch erwiesen.

1616 Bei einer Kombination aus verspätetem Mittagessen und Kaffeetafel studiere ich eine historische Abhandlung über die Rolle der Stadt Nürnberg unter dem Einfluss der italienischen Renaissance. Dafür brauche ich nun den Panoramablick, der mich mit einer dreidimensionalen 360-Grad-Ansicht der Dürerstadt verwöhnt und das mit einem so faszinierenden Detailreichtum, dass ich reflexhaft aufstehe. Die Sensorik des Schreibtischs passt sich der Bewegung an und lässt mich das
Geschehen aus einer entsprechenden Perspektive bestaunen. Sogar der Geruchsmix, der zur damaligen Zeit eine Stadt beherrschte, kitzelt meine Nase (freilich nicht auf sehr angenehme Weise) und als ich instinktiv einem Pferdegespann ausweichen will, das tatsächlich aus dem Bild herauszukommen scheint, verschlucke ich mich fast an meiner Pizza.
Schnell nehme ich wieder die Position des unbeteiligten Zuschauers ein und da momentan keine weiteren Klientengespräche anstehen, schwelge ich noch eine Weile in der Vergangenheit.

1811 Ich beginne eine Internet-Konferenz mit einigen anderen historisch Interessierten. Allerdings darf man sich unter diesem Begriff keine förmliche Besprechung vorstellen. Es ist eher ein lockerer Plausch über diverse Themen, so wie die Chats aus der Online-Steinzeit, verbunden mit der audiovisuellen Atmosphäre eines Aufenthalts auf dem Forum im alten Rom, wo sich die Leute in
der Antike zum Debattieren getroffen haben. Natürlich wäre auch ein Hintergrund aus jeder anderen Epoche möglich.
Wir halten uns vor allem beim immer noch beliebten UFO-Thema auf. Die Zahl der uns bekannten Exoplaneten ist zwar mittlerweile auf über hunderttausend angestiegen und wächst weiterhin, „lebensfreundlich“ im Sinne von „geeignet für organisches Leben“ sind immerhin mehrere Hundert, handfeste Beweise für ausserirdisches Leben gibt es allerdings immer noch nicht. Dabei lässt sich
natürlich fragen, was man unter einem „Beweis“ versteht und es ist überaus anregend, die Streitereien über diesen Punkt zu verfolgen.
Derartige Unklarheiten öffnen dann auch der Spekulation Tür und Tor. Stundenlang drehen wir diverse UFO-Sichtungen aus den letzten sechstausend Jahren hin und her und suchen nach Gemeinsamkeiten. Ein Teilnehmer referiert über die indischen Veden, die zu den reichsten Quellen für dieses Thema gehören.

2346 Als ich mich von meinen Gesprächspartnern verabschiede, habe ich zum ersten Mal die Komplettversion des Mahabharata in Sanskrit gehört. Ein faszinierendes Epos, das in der vollautomatischen Simultanübersetzung allerdings nicht ganz so gut klingt. Ich werde die Originalsprache wohl noch lernen müssen.

Schlafen ist jedoch nicht: ein weiterer Klient klopft an, diesmal nicht virtuell, sondern wirklich an meiner Tür. Ungewöhnlich, aber erfreulich, denn als ich anfing, Leute online zu betreuen, habe ich nicht erwartet, dass sich einer so weit überwindet, realen Kontakt zu mir aufzunehmen. Inzwischen ist mir das schon zweimal gelungen.
Der Besucher entspricht in geradezu absurder Weise dem Klischee eines Otaku: Nach aussen eher unansehnlich, also wahrscheinlich keine Zeit für einen Besuch im Bodyshop, die Kleidung auch nicht gerade ästhetisch ansprechend (um nicht zu sagen „geschmacklos“), dafür aber unter der Haut aufgerüstet bis zum Exzess und im persönlichen Umgang mit anderen, der „non-virtuellen Kommunikation“, eher unbeholfen.
Wir reden über eine Stunde lang und ich bringe ihn allmählich dazu, seine implantierte Mailbox abzuschalten, um sich nur auf das Gespräch zu konzentrieren. Seine Probleme sind die üblichen, zutiefst menschlichen, mit denen ich mittlerweile einige Erfahrung gesammelt habe. Sein Fehler, den übrigens viele machen, war dass er irgend etwas als absolut gesetzt hat (in seinem Fall die Technik, bei anderen vielleicht eine Religion oder Ideologie) und dann glaubte, von diesem Punkt aus alle Probleme lösen zu können. 
Ich kenne diesen Fehler deswegen so gut, weil ich ihn selbst auch schon begangen habe. Der erste Schritt zur Lösung ist es, die Absolutismen zu relativieren und die Leute zum Querdenken anzuregen.


Dienstag
0157 Der Klient verabschiedet sich, nachdem er einen weiteren persönlichen Termin gebucht hat. Ich lege mich nun auch in die Falle.

0600 Mein erster von zwei freien Tagen. Ich habe es mir zu Beginn des Jahrhunderts zur Gewohnheit gemacht, meine Freizeit auf die Wochentage zu legen, weil ich dann am Wochenende ausser Konkurrenz arbeiten konnte, um meine Vorgesetzten zu beeindrucken. Mittlerweile hat das allerdings keine berufliche Bedeutung mehr, sondern ist nur noch eine persönliche Schrulle.
Es steht ein Einkaufsbummel an. Ich erledige so was nicht vom Schreibtisch aus, auch wenn die Technik weit genug dafür ist, da ich der Meinung bin, mich mal wieder einige Schritte bewegen zu müssen. Meine Implantate halten mich zwar automatisch fit, dennoch gönne ich mir bisweilen einen Trip in die non-virtuelle Realität.

Nach der Abschaffung des deutschen Ladenschlussgesetzes und einiger anderer Handelshemmnisse in der ersten Dekade des Jahrhunderts wurde es möglich, weltweit rund um die Uhr einzukaufen, sodass ich ohne Zeitdruck durch die Shoppingmeile spaziere.
Wenn man fragt, was sich da am meisten geändert hat, so würde einem Besucher aus den letzten Jahrzehnten wohl folgendes auffallen: Es gibt keine Kinos mehr, keine Videotheken und keine Fernsehsender. Alle Filme, Serien und Dokumentationen, die je geschaffen wurden, sind inzwischen zu public domain erklärt worden und können gratis aus den Archiven abgerufen werden, zuhause sehen wir sie dann an der Wand, wo papierdünne Drei-D-Displays die Stelle der Tapeten wie auch der Bilder eingenommen haben und schon recht nahe an das Holodeck herankommen; ausserdem verstehen moderne KIs die menschliche Psyche so gut, dass sie unbegrenzte Mengen neuer Filme und Musikstücke von höchster Qualität erschaffen, die natürlich gratis sind und für die es kein Copyright mehr gibt.
Ein ähnliches Schicksal hatten Zeitungskioske, die zugleich mit den Printmedien verschwanden, Nachrichten lesen wir seither als Projektion auf unseren künstlichen
Augen oder, wer diese nicht will, auf hoch entwickelten Kontaktlinsen, so dass wir dabei ganzgemütlich sitzen oder liegen können.

Auch Fitness-Studios, Telefonshops und Ein-Euro-Läden sind nirgends mehr zu sehen, dafür hält man noch einige herkömmliche Kaufhäuser am Leben; dies geschah zuerst rein aus Nostalgie, dann aber stellte sich heraus, dass es manchen Menschen nicht genügt, über potenziell unerschöpfliche Güter zu verfügen, die sie sich aus dem Replikator holen könnten, sondern sie wollen diesen Reichtum greifbar haben, wörtlich zum Anfassen. Einige haben sich von den Maschinen einen Palast bauen
lassen und diesen mit allen möglichen Dingen vollgestopft, andere verspüren dieses Bedürfnis nur gelegentlich und befriedigen es in den modernen Warenhäusern, wo sie ganze Berge von erstklassigen Gütern zur Verfügung haben, die sie stundenlang ansehen, an- und ausprobieren, womit klassisches Shopping bis zum Exzess getrieben wurde.

Dekadent? In der Tat. Es ist genau das, was in den vergangenen Jahrhunderten als Schreckensbild beschworen wurde, hier z. B. die Formulierung des genialen Stanislaw Lem in „summa technologiae“,1964: „Wenn sich nichts ändert, so erklären uns zahlreiche westliche Intellektuelle, ertrinkt der Mensch im Konsum-Hedonismus“.
Warum es so schrecklich sein sollte, dass Mangel und Not aufhörten, habe ich schon vor den grossen Fortschritten nicht verstanden und wer schlechter leben will, als es technisch möglich wäre, der kann das ja tun.

0754 In einer Hightech-Umkleidekabine, wo mir die Kreationen der Designer-Software dreidimensional auf den Körper projiziert werden, betrachte ich mich im Spiegel. Dass ich mittlerweile 46 Jahre alt bin und gerne gut esse, sieht man mir nicht an. Die Erhaltung von körperlicher und geistiger Fitness, ohne dass ich dafür noch einen Finger rühren muss, war (in meinen Augen) eine der bisher grössten Leistungen moderner Technologie. Ich habe mir vor zwei Jahren eine Ladung Nanobots injizieren lassen, die die „biologische Uhr“ in meinen Zellen ausgeschaltet haben und meinen Körper nun für alle Ewigkeit auf dem Stand halten, den ich mir wünsche. Zum Beispiel sind meine Anfälligkeiten für Schnupfen und gelegentliches Nasenbluten, die mich früher so oft ärgerten, völlig eliminiert worden, mein Stoffwechsel ist so eingestellt, dass ich nie wieder fett werde, ich kann alles Mögliche essen ohne die Gefahr von Verdauungsstörungen, weiter habe ich ein künstliches Herz, das nie erkrankt, das Blut wird durch mehrere im Körper verteilte Implantate gereinigt, wodurch die Nieren überflüssig wurden, das früher so lästige Schwitzen hat aufgehört, meine Augen sind falkenscharf, so dass ich keine Brille mehr brauche und bei Bedarf kann ich per Gedankenbefehl Nachtsicht-, Zoom- und Kamerafunktionen zuschalten.
Meine Arme, Beine, Augen, Ohren, Nase und Zähne sind vollständig kybernetisch, wesentlich leistungsfähiger als die biologischen Originale und können leicht repariert, ausgetauscht oder zusätzlich aufgerüstet werden. Auch meine Haut ist nicht mehr so haarig, wachsbleich und empfindlich wie früher. Ich habe alle Haare von den Ohren abwärts dauerhaft entfernen lassen und die Hautpigmente mittels Gentherapie verändert, so dass ich nun, ebenfalls dauerhaft, eine gesunde Bräune besitze.
Auf Muskelberge oder einen Riesenpenis (momentan in sind die Modelle „Long John Silver 3.2“ und „Rasputin 2.0“) habe ich bewusst verzichtet – ich habe auch so genug Erfolg bei den Frauen. Lieber setze ich auf weniger auffällige interne Verstärkungen, mit denen ich mittlerweile jedem Olympioniken der Vergangenheit überlegen bin; schneller, stärker, klüger, immun gegen alle Krankheiten, weniger empfindlich gegen Witterungseinflüsse oder anders gesagt: weniger „menschlich“, mehr „posthuman“. Ich setze diese Begriffe in Anführungszeichen, weil mir bis heute weder für den einen noch für den anderen eine klare Definition begegnet ist. Die entsprechenden Diskussionen toben seit Jahrzehnten, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen.
Was uns diese so wahnsinnig gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit konkret bringt? Nun, ein Beispiel: Der Appalachian Trail ist einer der längsten Wanderwege der Erde, zieht sich über eine Strecke von 3'450 km an der Ostküste Nordamerikas entlang und in früheren Zeiten brauchte ein gut trainierter Wanderer mehrere Monate, um ihn an einem Stück zu bewältigen. Heute dauert das nur noch sechs Wochen und trotzdem können wir die überwältigende Naturschönheit dieses Weges Meter für Meter geniessen, weil wir uns in dieser Zeit nicht anstrengen.

1109 Ich schicke Paulchen nach Hause, um die Einkäufe – ein paar neue Klamotten und eine Ladung Bücher – unterzubringen. Dazu läuft er im Vierbeiner-Modus über die Strasse, auf dem Rücken eine grosse Transportkiste.
Bücher? Ihr habt richtig gelesen: gute, alte Papierbücher. Das ist ein Hobby, das ich sorgfältig pflege und durch den Bevölkerungsrückgang der letzten Jahrzehnte ist in Europa dermassen viel Wohnraum frei geworden, dass ich meine Bibliothek auf über fünfzig Quadratmeter ausdehnen konnte.
 „Bibliothek“ ist hier allerdings in einem erweiterten Sinne zu verstehen, ich horte dort nicht nur Bücher, sondern zwischen den einzelnen Regalen hängen Reproduktionen alter Landkarten und Gemälde in Originalgrösse, der eine oder andere moderne Druck, ausgesuchte historische Blankwaffen und Schiesseisen. Dabei orientiere ich mich nicht am Sammlerwert der Dinge, sondern an ihrer Schönheit – und es gibt viele schöne Dinge auf dieser Welt: Obwohl die Oberflächen sämtlicher Materialien mit Nano-Überzügen versehen und daher schmutzabweisend sind, verbringt Paulchen einen guten Teil seiner Zeit mit Abstauben ;-).

1143 Ich kaufe an einem robotischen Imbiss-Stand eine Portion Dim Sum mit herzhafter Füllung und eine Flasche finnisches Quellwasser. Gezahlt wird mit der Bankingfunktion meiner Implantate.
Beim Essen bummele ich durch den Stadtpark. Eine Jugendgruppe der seit der ökumenischen Revolution wieder vereinten christlichen Kirchen tobt ausgelassen an mir vorbei, begleitet von einigen Aufsichts-Robotern. Es sind zehn Kinder auf einmal, heutzutage ein seltener Anblick. 
Der seit Jahrzehnten anhaltende Geburtenrückgang einerseits und die allgemeine Lockerung der Sexualmoral andererseits haben dazu geführt, dass es nicht mehr verwerflich erscheint, wenn eine Frau einen Mann nur noch anmacht, weil sie ein Kind von ihm will und sonst nichts. Das gab es zwar früher auch schon, aber mittlerweile hat sogar das III. Vatikanische Konzil erklärt, dass an dieser Praxis nichts Sündhaftes sei.
Ich habe bei dieser Veröffentlichung auf dem Boden gelegen vor Lachen. Über Jahrhunderte haben die christlichen Religionen so getan, als sei jeder nicht-eheliche Sexualkontakt der Auslöser der Apokalypse – und dann das!

Da ich seit 16 Jahren sterilisiert bin und daraus auch kein Geheimnis mache, tauge ich allerdings nicht für Fortpflanzungszwecke und so schmeichelte es meiner Eitelkeit, dass einige Frauen mich für attraktiv genug hielten, um mich trotzdem zu verführen (oder sich verführen zu lassen, je nach Sichtweise). Die Nanobiotechnologie hat neben Krebs, Lepra, Malaria und Multipler Sklerose auch jede Art von sexuell übertragbaren Krankheiten weltweit ausgerottet und, was noch viel besser ist, entsprechende Anfälligkeiten aus dem menschlichen Genfundus entfernt, so dass wir nun ungehemmt unseren Lüsten frönen können.

1211 Nun habe ich mich auf einer Bank niedergelassen und beobachte die Leute, die an mir vorbeiflanieren. Jede Menge hübsche Frauen dabei, hmmm...
Körperliche Attraktivität ist übrigens generell kein Problem mehr. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte der Genetik und der Nanobionik führten zum Untergang der herkömmlichen Schönheitschirurgie, denn wir können inzwischen so attraktiv sein, wie wir nur wollen und unsere Implantate erhalten diese Schönheit für alle Zeiten. Das menschliche Alter wird nur noch an der Zahl der Jahre gemessen, nicht aber am körperlichen Verfall wie früher, man sieht keine Krücken mehr, keine Rollstühle oder Gehwagen, weder Falten noch graue Haare und Alzheimer gibt es auch nicht mehr, seit sogar Stammzellentherapien spottbillig wurden. Eine hundertjährige Frau kann heute einen Gesundheitszustand und eine Figur haben, für die eine Zwanzigjährige früher gemordet hätte und kaum jemand nimmt es noch wahr, weil Schönheit und Gesundheit so alltäglich geworden sind.
Mein Klient von gestern Abend sah nur deswegen nicht wie ein Adonis aus, weil er diesen Bereich seiner Entwicklung vernachlässigt hat und nicht etwa, weil es technisch nicht möglich wäre. Für Menschen, die heute zwanzig oder jünger sind, ist die Vorstellung von irreparabler Hässlichkeit oder gar unheilbaren Krankheiten nur noch ein Abstraktum aus der finstersten Vergangenheit.
Wer das alles bezahlt hat? Wir selbst. Krankenkassen etwa sind überflüssig geworden, weil der technische Fortschritt einen Preisverfall ohnegleichen auslöste. Spottbillige Serviceroboter können einfache bis mittelschwere körperliche Beeinträchtigungen sowohl diagnostizieren als auch behandeln und haben damit menschliche Ärzte in die hochsensiblen Bereiche abgedrängt. Das führte dazu, dass neue Beine, ein verbessertes Gebiss und etliche andere Dinge selbst für Arbeitslose erschwinglich geworden sind.

Arbeitslose? Ganz recht – es gibt sie noch. Wir leben nicht in einem Sonnenstaat oder Utopia (Konzepte, die ich übrigens wegen der diversen Zwänge, die darin auf den Einzelnen ausgeübt werden, nie sehr sympathisch fand), sondern im Kapitalismus. Es gibt soziale Unterschiede, es gibt weiterhin Arme und Reiche, es gibt einen Mittelstand und eben auch Arbeitslose. „Armut“ ist allerdings ein relativer Begriff: Die Technik der Gegenwart sorgt dafür, dass es in jedem Haus Replikatoren gibt, die Nahrung und Kleidung herstellen, so dass niemand hungern oder frieren muss. Diese Versorgung kostet nichts, weil heutige Replikatoren sogar hochwertige Lebensmittel aus einfachen Grundstoffen herstellen, inspiriert von der „Molekular-Gastronomie“ seit dem Jahr 2006, und diese Grundstoffe von solar angetriebenen Systemen in jedem Haus gratis erzeugt werden (die Nano-Energie-Technik hat uns Solarzellen mit fünfmal höherer Effizienz gegeben, von den übrigen Fortschritten in Solarthermik und Geothermik gar nicht zu reden und natürlich haben wir inzwischen auch Solarkraftwerke auf Satelliten installiert). Das ist so allgemein wie früher die „alte“ Elektrizität und fliessendes Wasser in Sozialwohnungen, wer aber z. B. von Menschenhand gefertigte Designermode tragen oder im Restaurant bedient werden will, muss arbeiten, um das zu finanzieren.
Oder: Ein „Armer“, der sich tagtäglich mit chemischen Drogen oder elektronischen Simulationen betäuben will, braucht sie sich nur von seinen Hausinstallationen gratis produzieren zu lassen, wodurch die Beschaffungskriminalität eliminiert wurde (ein Süchtiger, der bewusst nicht geheiltwerden will, wird nicht dazu gezwungen), aber wer an aufwändigeren Vergnügungen teilnehmen will, muss dafür zahlen.
Was arbeiten wir, wo doch die Maschinen so superschlau sind? Wir erbringen hochwertige Dienstleistungen, für die entweder selbst den besten Robotern das Einfühlungsvermögen fehlt oder von denen die Menschen das zumindest glauben. Es ist zuweilen unlogisch, aber Menschen bezahlen andere Menschen immer noch dafür, solche Dinge zu tun: Psychologie, Kunst, Spezialmedizin, Kampf, Spionage, sportliche Wettkämpfe, wissenschaftliche Forschung, Justiz und in einigen extremen Fällen sogar Sex. In einem Satz, die Liste „menschlicher Nischen“ in der Dienstleistungsbranche ist noch immer recht lang.
Im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe oder in der Energiewirtschaft sieht die Sache anders aus, hier haben die Maschinen alles übernommen und wir haben es ihnen gern überlassen. Sie kümmern sich auch um Rohstoffversorgung und Recyclingmassnahmen aller Art und wenn auch nur ein ehemaliger Müllwerker dem Tonnenheben nachtrauert, habe ich noch nichts davon gehört. 

Last but not least ist das Ganze natürlich kein Zwang. Wer primitiv leben will, etwa wie die Amish schon im 19. und 20. Jahrhundert, der kann das tun.
Ein ähnliches Phänomen beobachtete ich in Indien bei religiösen Asketen, welche nichts besitzen und doch zufrieden sind. Weil mir das übertrieben erscheint, fragte ich einmal einen solchen Mann, ob er denn nichts vermisse. Er lachte gutmütig und erwiderte, er hätte alles, was er brauchte, erlaubte mir sogar, seinen Körper zu scannen und ich fand nicht die geringste Aufrüstung!
Meine Reaktion darauf war die einzig zivilisierte: Ich lasse diesen Leuten ihre Freiheit, wie sie mir die meine.

Übrigens lässt sich diese „Revolution“, um den wohl abgenutztesten aller Begriffe zu verwenden, nicht an einem oder einigen bestimmten Punkten festmachen. Früher erwartete ich, es müsste dann und dann „die Wende“ eintreten, die alles umwälzen sollte und dass ich selbst auch „revolutionäre“ Dinge tun müsste, aber das geschah nicht. Stattdessen konnte ich immer wieder Verbesserungen Schritt für Schritt aus der laufenden Entwicklung übernehmen und wenn das Geld kostete, verdiente ich dieses Geld mit ganz normalen Jobs, die sich nur allmählich veränderten. 
Auf diese Weise habe ich sowohl mein Studium als auch die erste Generation körperlicher Verbesserungen (künstliche Arme und Beine sowie Brainchips) finanziert. Eine Kombination aus Quantencomputern und Nanoelektronik, die ab 2018 die Welt veränderte, ermöglichte komplexere Arbeiten, die mir genug Geld einbrachten, um die zweite Generation meiner Aufrüstung zu bezahlen (künstliche Augen, Ohren, Nase, Zähne, Implantate mit erweitertem Speicher, Hormonsperren und Emotionsblocker), was mich schliesslich auf den heutigen Stand brachte. Auch Paulchen gehört mir seit jener Zeit. Einer meiner Kunden – ein exzentrischer Kauz, der schon mehrere Maschinen dieses Typs besass, als es noch nicht allgemein üblich war, auch nur einen zu haben – schenkte ihn mir zu Weihnachten 2018.

1242 Ein schlaksiger junger Mann, der an einem Baum lehnt, beobachtet mich seit 17,3488 Minuten und ist sich offensichtlich nicht schlüssig, ob er mich ansprechen soll. Schliesslich versuchter über seine Implantate eine lautlose Kontaktaufnahme.
„Ähm – hallo.“
„Hallo. Kennen wir uns?“ Klar, dämliche Frage, denn wenn das der Fall wäre, hätten meine Brainchips ihn längst identifiziert, aber mir fällt gerade nichts Schlaueres ein.
„Noch nicht, aber sagen Sie, sind Sie nicht der Psychologe, der Sabrina behandelt?“
„Ich kenne mehrere Leute, die so heissen, wen meinen Sie genau?“
Er schickt mir das Bild eines Avatars, den meine Klientin von gestern Vormittag benutzt hat.
„Und wer möchte das wissen?“ Zunächst einmal weder Bestätigung noch Dementi. Schliesslich weiss ich, was Schweigepflicht ist.
„Nun, äh – Sabrina ist meine Cousine. Ich kümmere mich um die administrative Seite unserer Familienangelegenheiten und daher weiss ich, dass sie ein paar Probleme hat, wegen denen sie bei Lifehelp war. Bei Ihnen, um genau zu sein.“
Das erscheint plausibel. Mein Lebenslauf und meine Referenzen liegen öffentlich auf der Lifehelp-Website, damit die Leute wissen, mit wem sie es zu tun haben und der Junge klingt ganz danach, als wäre er einer der Typen, die so etwas wirklich lesen. Administrative Seite der
Familienangelegenheiten, du meine Güte! Er hat jetzt schon mein Mitleid wegen dieser geschraubten Bürokratensprache, aber trotzdem bin ich nicht bereit, ihm Informationen über eine Klientin zu geben. Statt dessen lenke ich das Gespräch in eine neue Richtung.
„Und was kann ich für Sie tun?“
Er zögert. Ich schicke ihm ein Lächeln und mache eine einladende Geste zur Bank.
„Kommen Sie nur rüber, ich beisse nicht.“
Anscheinend glaubt er mir und in den nächsten Stunden reden wir.

In der Öffentlichkeit? Warum nicht? Es hiess schon in der alten Zeit, wenn du dich verstecken willst,geh’ dorthin, wo viele Menschen sind. Heutzutage hat diese Weisheit eine neue Bedeutung erhalten, denn durch die Allgegenwart von robotischen Systemen, die alles überwachen, glauben manche Leute, sie wären im stillen Kämmerlein weniger sicher als in der Öffentlichkeit, wo das Hintergrundrauschen aus allen möglichen Geräuschen, Gerüchen und Bewegungen die Sensorik der Maschinen überlasten soll.
Dieses Misstrauen speist sich hauptsächlich aus früheren Erfahrungen, wo die Überwachungstechnik in den Händen von Menschen lag, die ganz und gar nicht vertrauenswürdig waren: Politiker. Heute wäre so etwas unvorstellbar und nur der alte Reflex gegen die Technik selbst hat sich noch vielerorts gehalten. Ich finde das übertrieben, aber der Kunde hat die Wahl.
Er stellt sich als Melbar vor.
„Melbar? Wie Melbar Kasom, der Ertruser?“
Die Frage rutscht mir spontan heraus und er reisst die Augen auf. „Sie kennen Perry Rhodan?“
Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen.
„Nun, ich lese viel.“
Zwischendurch taucht Paulchen wieder auf und serviert Getränke. Er hat die Einkäufe abgeliefert, mich dann mit der Ortungsfunktion unserer Implantate wiedergefunden und als er sah, dass ich beschäftigt bin, schaltete er vom Transporter wieder um auf den Butler.
Und was ist nun mit dem Jungen? Er hat Liebeskummer! Man mag kaum glauben, dass dieses Problem noch existiert, aber wenn man keinen Emotionsblocker benutzt (es stellt sich heraus, dass er aus religiösen Gründen keinen hat), brennt dieser „süsse Schmerz“ noch ebenso wie vor Jahrtausenden. 

Der Haken ist nun, dass die betreffende Frau einer Familie aus dem Neo-Adel angehört, die einem strikten Ehrenkodex folgt und Melbar als „nicht würdig“ betrachtet.
Hintergrund: Analog zur antiken Pax Romana oder zum Japan des 17. Jahrhunderts hat in der Gegenwart eine Kombination aus Frieden und umfassendem materiellem Wohlstand dafür gesorgt,dass den Menschen jenseits des reinen Überlebens Zeit für andere Dinge bleibt und genau wie damals suchen sie sich zu beschäftigen und stiessen dabei auf die alten Konzepte von Ehre. „Wenn alle Religionen entzaubert, alle Philosophien geprüft, alle politischen Ideologien der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, was bleibt dem Menschen dann noch, wenn nicht die Ehre?“
Infolgedessen haben sich elitäre Kreise gebildet, in denen alle Dinge streng ritualisiert wurden und in eine Frau aus einem solchen Kreis hat sich mein neuer Klient verknallt. Er weiss noch nicht einmal, ob sie ihn ebenfalls liebt, ihn nur nett findet oder ihn gar nicht wahrgenommen hat, denn er hat sie nur flüchtig auf einer Ausstellung gesehen und ist ihrem Lächeln verfallen.
Zwar gibt es einige Unterschiede zum alten Japan – so hat Melbar seinen Kopf noch behalten, weil der Adel heutzutage nicht mehr das alleinige Recht des Waffentragens und Tötens besitzt – aber das macht ihn nicht glücklicher. Der Patriarch der Familie wäre bereit, ihn und seine Angebetete im Namen der Ehre zu erschiessen, wenn sie sich auch nur sehen würden und dass das illegal wäre, würde die beiden nicht mehr lebendig machen.
Hier kommt mir nun meine Bildung zu Hilfe. Ich kenne derartige Fälle zur Genüge und weiss, dass sie nicht zwangsläufig in einer Tragödie enden müssen.

„Ehre“ ist zunächst einmal ein Wort, eine Abfolge von Geräuschen, mehr nicht. Es kommt, wie vor langer Zeit ein intelligentes Programm zu Neo sagte, darauf an, was man mit einem Wort verbindet („Matrix Revolutions“, die Szene auf dem Bahnhof).
Entsprechend viele Interpretationen von Ehre gibt es in der menschlichen Geschichte und ich ahne, was das Problem des Patriarchen ist: Erstarrung. Er klammert sich an eine einzige Interpretation, ohne zu berücksichtigen, dass die Welt sich ständig verändert und dass deswegen Ehre und ehrenhaftes Verhalten, wie alle anderen Dinge, immer wieder neu definiert werden müssen.
Das ist auch der Ansatzpunkt, von dem aus ich dieses Problem lösen werde. Egal, was der Alte unter Ehre versteht, er hat dafür Vorbilder. Und diese Vorbilder waren Menschen, die, wenn sie lange genug am Leben geblieben sind, ihre eigene Auffassung von Ehre immer wieder verändern mussten. Das ist ein universaler Zug aller ehrenhaften Menschen, egal in welcher Epoche, egal in welchem Kulturraum. 

Damit ist die Lösung ähnlich derjenigen, die ich gestern dem Otaku aufgezeigt habe: relativieren, querdenken, abweichen vom vorgezeichneten Weg. Alle klugen Köpfe der Menschheitsgeschichte haben auf diese Weise ihre Erfolge erzielt und einer von ihnen machte das sogar zur Definition von Genie: „Sehen, was jeder sieht und denken, was keiner denkt.“
Konkret: wenn ich den Patriarchen dazu bringe, an seiner eigenen Definition von Ehre zu zweifeln und ihn dabei so lenke, dass ihm dieser Prozess nicht zuviel Angst macht, weil er sonst aggressiv werden könnte, dann kann ich ihn auch dazu bringen, etwas Neues auszuprobieren – wie z. B. seine Nichte selbst entscheiden zu lassen, welche Männer sie kennen lernt und welche nicht.  

Natürlich wird das in der Praxis etwas länger dauern als es sich hier liest, denn es erfordert unzählige kleine Schritte, von denen jeder einzelne wichtig ist. Dennoch verblüfft es mich, dass die meisten Menschen dieses Prinzip nicht zu verstehen scheinen. Ich habe es in mein Lifehelp-Profil geschrieben, ich habe es in mein privates Online-Profil geschrieben, ich habe es unzähligen Menschen persönlich erklärt. Trotzdem kommen immer wieder Leute zu mir, die das nicht verstehen (oder solche, die es verstehen, sich aber die Anwendung nicht zutrauen!) und bitten mich, es für sie zu tun.
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Sie bezahlen mich dafür, eine Theorie in die Tat umzusetzen, obwohl sie es auch selbst tun könnten. Mir scheint, Max More hatte recht, als er 1997 schrieb: „Denken ist Schwerstarbeit. Die meisten Menschen versuchen, so wenig wie möglich zu tun.“
Oder hören wir Friedländer in seiner „Sittengeschichte Roms“, erschienen 1862 ff.: „Allem Anscheine nach hatten die Philosophen eher darüber zu klagen, daß sie zu viel, als daß sie zu wenig um Rat gefragt wurden. Man verlangte von ihnen, wie Epictet sagt, Verhaltungsmaßregeln in praktischen Angelegenheiten, wie von einem Schuhmacher oder Gemüsehändler seine Ware, ohne durch eigne Arbeit die sittlichen Prinzipien sich aneignen zu wollen, aus denen die Entscheidungen aller einzelnen Fälle abgeleitet werden mußten.“
Das Phänomen als solches ist also nicht gerade neu und von der Tatsache, dass so viele Leute das Denken outsourcen, lebe ich nicht schlecht.

1953 Melbar scheint sich bereits wohler zu fühlen, als er sich einmal ausgesprochen hat. Ich nehme ihn noch ein bisschen in die Zange, ob er die betreffende Frau wirklich liebt oder sich das nur einbildet.
Als er dabei bleibt, dass er ohne sie „nicht mehr leben“ kann, lasse ich ihn für heute in Frieden oder genauer gesagt, ich schicke ihn mit dem Auftrag nach Hause, über seinen Gegenspieler zu recherchieren, denn er hat zwar alles über die Frau herausgefunden, die ihn bezauberte, aber den Rest der Familie ignoriert. Mit der Korrektur dieses Fehlers wird er schätzungsweise 48 Stunden beschäftigt sein, so dass ich den Rest meiner Freizeit ungestört bin

Sonntag, 19. April 2015

Leben 2020 - Teil 1


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Alle Szenarien basieren auf Technik, die bereits existiert.

Die Welt im Jahr 2020ein Überblick


Aus den alten Staatenverbünden EU und ASEAN ist über einen Zeitraum von einigen Jahren hinweg die Eurasische Union (EURASU) geworden. Nicht nur die früheren GUS-Staaten sind Mitglieder, sondern auch ganz Südosteuropa und Asien, das heisst, die klassischeSeidenstrasseist in moderner Form wieder belebt und deutlich erweitert worden.
Die afrikanischen Länder haben zunächst lokale Freihandelszonen geschaffen und diese dann nach und nach mit der EURASU assoziiert. Noch sind die Bindungen nicht so eng wie in Europa, aber wenigstens wurde, gefördert durch chinesische Investitionen, der Teufelskreis der Bürgerkriege und Tyranneien durchbrochen und die AIDS-Epidemie besiegt, was dem Kontinent wieder Hoffnung gab, spätestens mit Fertigstellung der Trans-African-Highways war der Aufschwung nur noch eine Frage der Zeit.
Die nord- und südamerikanischen Freihandelszonen sind ebenfalls zu einer einzigen verschmolzen. In den USA haben die WASPs, die noch unter der Bush-Dynastie unbesiegbar schienen, ihre dominierende Rolle an die Latinos abgegeben und die zu Anfang des 21. Jahrhunderts aufgebrochenen Ressentiments zwischen Washington und demalten Europasind längst verpufft, nachdem die verantwortlichen Politiker auf dem Müllhaufen der Geschichte endeten.
Überhaupt wird heutzutage Macht kaum noch von Regierungen, sondern eher von Konzernen ausgeübt, aber die Menschen hängen an den alten Strukturen, also hat man sie einstweilen noch bestehen lassen.

Mit diesen Fortschritten einher ging eine rasante Entwicklung der Technik. Das bisherige Ergebnis: Siebeneinhalb Milliarden Menschen, sei es nun auf der guten alten Erde, in Raumhabitaten oder Mond- und Marskolonien, leben in beispiellosem materiellem Wohlstand, Gesundheit und Attraktivität, ermöglicht durch spottbillige und deshalb allgegenwärtige Implantate, Roboter und KIs.
Billig? Ja, richtig gelesen. Die Konstruktionsprinzipien solcher Maschinen sind längst als Open Source veröffentlicht worden, ähnlich wie meine Generation schon in der Schule alles über die Funktion von Automotoren lernen konnte, weil es lächerlich wäre, ein so allgemein verbreitetes Wissen noch als Geheimnis irgend einer Firma behandeln zu wollen. Das bedeutet, dass es keine Patentrechte und keine Marktmonopole mehr gibt, die den Preis künstlich hoch halten könnten und neuerdings haben die Roboter sogar so viel gelernt, dass sie sich selbst reparieren und reproduzieren können. Damit sind die Produktionskosten auf Null gefallen, weil die Maschinen jetzt ausserhalb der klassischen Wertschöpfungskette stehen.
In Anbetracht dessen hat man die Frage gestellt, ob es für Menschen denn noch Herausforderungen gäbe und die Antworten gingen bisher in die Richtung, dass noch einige übrig wären.  

Andererseitswie war das noch gleich mit den Maschinen, die alles für uns tun können? Wie würde es sich wohl anfühlen, ganz und gar in maschinell versorgte Faulheit und Dekadenz abzugleiten.  
Wahrscheinlich würde es mir vor allem als Verschwendung meiner Potenziale erscheinen. Bei einer statistischen Lebenserwartung von mittlerweile 200 Jahren, die Abschaffung des biologischen Alterns noch gar nicht gerechnet und das alles bei bester Gesundheit, wünsche ich mir irgend etwas zu tun, wenn nicht die Prophezeiung derboring twenties, derlangweiligen Zwanziger Jahrewahr werden soll.
Das fällt uns allerdings auch relativ leicht: der durchschnittliche IQ eines aufgerüsteten Gehirns liegt bei 140, das bedeutet, Aufgaben, die einmal als hochkomplex bis unlösbar gegolten haben, werden heute schnell und effizient erledigt. Wissenschaft ist von der Domäne einer geistigen Elite zur alltäglichen Beschäftigung geworden, auf dem Mars etwa treten sich die Forscher schon gegenseitig auf die Füsse und das Wettrennen um die übrigen Planeten ist in vollem Gange.
Nicht zuletzt suchen wir immer noch nach einem Weg, Raumfahrt mit Überlichtgeschwindigkeit zu betreiben, weil wir ohne diese auf das heimatliche Sol-System beschränkt sind und es uns nicht gefällt, derart eingeengt zu sein.

Es gibt also immer noch ganze Berge offener Fragen, der Unterschied zu früher ist jedoch, dass wir langweilige Routineaufgaben an die Maschinen verlagert haben und uns den wirklich interessanten Dingen widmen können.