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Alle Szenarien basieren auf Technik, die bereits existiert.
Sonntag
0400 Nach einigen Stunden Schlaf, auch das in der Schwerelosigkeit und damit eine neue Erfahrung für mich, geht es weiter. Während meiner Ruhephase hat Maria entdeckt, dass ein Samurai der Wyrmberges im Habitat anwesend ist. Sie nutzte die Gelegenheit und forderte ihn in meinem Namen heraus. Ein Sieg erstreitet mir das Recht, mich mit meinem Anliegen direkt an die Familie zu wenden, verliere ich jedoch, muss ich erneut gegen untergeordnete Personen antreten. Damit soll gewährleistet sein, dass (O-Ton Onkel Herbie) „nur Leute von Format“ bis zu ihm selbst vordringen.
Der Samurai hat nun das Recht, Informationen über mich einzuholen und die Herausforderung abzulehnen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass ich kein würdiger Gegner bin. Das soll verhindern, dass er sein Gesicht verliert, indem er sich auf einen Kampf mit einem Proleten einlässt, aber es ist keineswegs eine bequeme Methode, sich vor jeder Gefahr zu drücken, denn wenn der Herausforderer nach den Prinzipien des Bushido eine ehrenhafte Person ist und der Geforderte lehnt ohne guten Grund ab, ist der Gesichtsverlust noch grösser.
Nun wissen wir ja, wie die modernen Samurai denken. Wenn sie nicht mindestens Daimyo sind, können sie es sich nicht leisten, einen Gegner abzulehnen, der bisher dreizehn dokumentierte Kämpfe gewonnen hat (= Herausforderung) und ausserdem im Namen einer unerfüllten Liebe antritt (= Romantik). Schwert und Kirschblüte sind hier gleichermassen bedient.
0424 Der Samurai nimmt tatsächlich an und in gewisser Weise habe ich damit bereits gewonnen. In dem Augenblick, in dem ein Angehöriger des Adels entschied, dass ich, ein Bürgerlicher, als würdiger Herausforderer gelte, hebt das mein Ansehen enorm. Selbst wenn er mich nun tötet, was er wahrscheinlich versuchen wird, da bei einem Kampf mit scharfen Klingen keine Grenzen gelten, bin ich der Sieger und wenn ich mich gut halte, egal wie es letzten Endes ausgeht, wird man
vielleicht sogar ein Gedicht über mich verfassen.
Wenn ich gewinne, was ich im Interesse meines Klienten tun sollte, werde ich den Gegner möglichst überhaupt nicht verletzen. Sunzi sagt, die beste Strategie ist es, so zu handeln, „dass zumindest der Tag ohne einen Tropfen vergossenen Blutes gewonnen wird“ und die Weisheit dieser Worte gilt heute noch wie vor 2'500 Jahren.
Wir begegnen uns in einem Raum, der mit einigen Säulen und Haltestangen ausgestattet, aber ansonsten völlig leer ist. Ausserdem scheint mit der Optik etwas nicht zu stimmen, denn die Kanten sind weder abgerundet noch rechteckig. Sie scheinen vielmehr aus Tetraedern und Oktaedern zusammengesetzt – hoppla, das kenne ich doch?
Klar: M.C. Escher, der bis heute ungeschlagene Meister der grafischen Paradoxa, schuf 1959 die Lithografie „Flat worms“ („Plattwürmer“), in der er einen solchen Raum darstellte. Eine wahrhaft würdige Hommage an einen grossen Künstler!
Mein Gegner kämpft gut, aber seine Absicht, mich umzubringen, steht ihm im Weg. Ich bin meinerseits gut genug, um ihn nicht zu einem tödlichen Schlag kommen zu lassen und das frustriert ihn allmählich, bis er anfängt, Fehler zu machen. Bevor er noch dazu kommt, diese Fehler zu analysieren und seine Taktik anzupassen, nutze ich einen Moment der Schwäche aus und führe einen Hieb aus der „nachsetzenden Abwehr“. Mein Katana trifft ihn zwischen Hals und Schulter, durchdringt die Kleidung und verharrt so dicht über der Haut, dass ich über die Klinge das Pulsieren
seines Blutes spüren kann. Hätte ich mit Tötungsabsicht zugeschlagen, würde ich ihn jetzt von der linken Schulter bis zur rechten Hüfte in zwei Teile spalten.
Er ist besiegt und er weiss es. Einen Augenblick starrt er mich mit einer Mischung aus Staunen und Zorn an, dann gewinnt seine Selbstbeherrschung wieder die Oberhand. Wir weichen beide zurück, stecken die Schwerter ein und verbeugen uns voreinander.
Anschliessend besteht er darauf, Maria und mich im Normalschwerkraftbereich des Habitats zum Frühstück einzuladen. Dabei fragt er mich detailliert über meine Taktik und meine weiteren Absichten aus und ich gebe ihm gerne Auskunft, da ich auf diese Weise dafür sorge, dass sein Clan alles aus erster Hand erfährt.
Die KI des Habitats verzeichnet acht Prozent Einschaltquote während der Live-Übertragung des Kampfes und 155'643 Views der Aufzeichnung innerhalb der ersten Stunde danach. Nicht übel für einen Amateur.
0632 Um eure beiden nächsten Fragen mit einem Satz zu beantworten: Ja, wir probieren auch Sex in der Schwerelosigkeit aus, bevor wir wieder nach Hause fliegen und nein, er lässt sich nicht in wenigen Worten beschreiben.
0900 Rückflug zur Erde und anschliessend Rückfahrt nach Mitteleuropa.
Dabei erreicht mich ein Anruf von Melbar. Er ist hellauf begeistert von dem, was ich bisher getan habe und bedrängt mich nun, wann er seine Angebetete sehen darf.
Ich muss lachen und erkläre ihm dann, dass es noch lange nicht soweit ist. Mit meinem Sieg über den Samurai steige ich zwar in der Achtung der Wyrmberges, aber es kann noch Tage dauern, bis sie in ihrem überfüllten Terminkalender ein Plätzchen für uns finden.
Melbar beisst sich auf die Lippen und verflucht die „Scheiss-Rituale“ der feinen Gesellschaft. Ich empfehle ihm, einige Geduldsübungen zu absolvieren oder, wenn er seine nervöse Energie abreagieren will, selbst etwas Kampftraining zu betreiben. Das soll ihn vor allem daran hindern, eine Dummheit zu begehen, die uns die Arbeit erschweren würde.
Da schaltet sich Maria ein und verordnet ihm einen Kurs über Stil und Etikette, denn mit Flüchen, auch wenn sie eine befreiende Wirkung haben, wird er bei den feinen Leuten, die er überzeugen muss, nicht weit kommen.
Ich liebe diese Frau. Ihre Idee ist genial einfach, trifft einen wunden Punkt und wird unseren jungen Romeo wieder für eine Weile beschäftigen.
2341 Heimkehr.
Paulchen empfängt uns mit einer Überraschung: In den letzten achtzehn Stunden, das heisst, seit meinem Kampf mit dem Samurai, sind 148 Einladungen zu Partys und Soirées, 72 Interviewanfragen und 7840 Fanmails eingetroffen, ausserdem 12682 Hassmails, die mich als „unverschämten Lümmel“, „bürgerlichen Emporkömmling“ und ähnliches beschimpfen.
Paulchen erklärt mir, dass er alle Leute bis zu meiner Rückkehr vertröstet hat, weil ich keine Anweisungen für einen solchen Fall hinterlassen hätte. Dabei schaut er mich an – nun, er sieht nicht menschlich aus. Im Gegensatz zu Maria kann man ihm auf den ersten Blick ansehen, dass er ein Roboter ist und sein glattes Metallgesicht hat gar keine entsprechenden Muskeln, fragt also nicht, wie er es macht, aber er bringt es fertig, mich vorwurfsvoll anzusehen.
Mist! Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht!
Dann empfangen meine Ohren noch ein anderes akustisches Signal. Als ich dessen Ursprung lokalisiert habe, will ich es zunächst nicht glauben: Maria kichert!
Als ich sie verblüfft anstarre, wird ihr Kichern lauter.
„Sie wollen dich, Champ. Du bist jetzt ein Star“, erklärt sie lachend.
„Du hast es gewusst“, ist alles, was mir dazu einfällt.
„Nein. Hellsehen gehört nicht zu meiner Programmierung. Aber ich bin eine KI und zu den Fähigkeiten von Intelligenzwesen gehört es auch, aus beobachteten Fakten Schlüsse auf potenzielle Entwicklungen zu ziehen. Konzentriere dieses Talent auf das aus der Psychologie bekannte menschliche Bedürfnis nach Helden und die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse steigt signifikant an.“
Damit lässt sie mich eine Dosis meiner eigenen Medizin kosten: oberschlaues Dozieren von allgemein bekannten Tatsachen.
Denn natürlich hat sie recht. Wenn ich mich nicht zu sehr auf die Arbeit konzentriert hätte, dann hätte ich mir auch selbst ausrechnen können, dass etwas in dieser Art passiert.
Einstweilen kann ich nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen und sie dann zu küssen. Ausgiebig.
Dabei beginne ich zu überlegen, wie mir diese Entwicklung bei meiner Arbeit helfen könnte. Was davon lässt sich benutzen, um an Herbert Wyrmberge heranzukommen und was hebe ich mir für später auf, wenn der Fall abgeschlossen ist?
Marias Neuronale Netze haben die beste mögliche Antwort wahrscheinlich schon berechnet, aber sie hält sich zurück, weil sie weiss, dass es mir wichtig ist, selbst eine Lösung zu finden.
Nur eine Sache ist sofort klar: auf keinen Fall darf ich mir von meiner plötzlichen Berühmtheit den Kopf verdrehen lassen, denn sonst könnte es ein unangenehmes Erwachen geben. Ohne dass ich gross nachdenken muss, steht mir das Schicksal von Gaius Julius Cäsar als mahnendes Beispiel vor Augen und dazu doziert Mark Aurel: „Hüte dich, dass du nicht verkaiserst!“
2345 Wir gehen die Post im einzelnen durch. Maria kümmert sich um die Fan- und ich um die Hassmails. Sie sucht dabei nach Hinweisen, ob die Absender gefährlich werden könnten, wenn sie keine Antwort erhalten und ich analysiere, ob die Leute, die mich beschimpfen, es eventuell ernst meinen und sich nicht auf Worte beschränken könnten.
Beide Male ist das Ergebnis negativ, auch bei den 118 Heiratsanträgen, die zu den Fanmails gehören. Folglich verpasse ich dem ganzen Kram die Einstufung „Spam“ und gebe ihn an den Schreibtisch zurück. Ab sofort wird er Post beider Arten automatisch zurückweisen.
Die Interviewanfragen lassen wir erst einmal schmoren – sagen wir, 48 Stunden. Dann kann Paulchen sie beantworten und gegebenenfalls Termine vereinbaren. Nach meiner Erfahrung hat sich der grösste Teil bis dahin von selbst erledigt, weil immer wieder neue Sensationen auftauchen, mit denen ich nichts zu tun habe.
Mit den Einladungen ist es etwas diffiziler. Wir können sie nicht alle wahrnehmen und ich mag es nicht, Avatare zu benutzen. Also muss ausgewählt werden und zwar vorsichtig, denn eine Ablehnung birgt gewisse Risiken:
Erstens, es könnte sein, dass dadurch die einladende Person an Gesicht verliert.
Zweitens könnte ich das Gesicht verlieren.
Drittens, das ist das Schlimmste, könnte das beiden Seiten passieren.
Abhilfe eins: bei jeder Ablehnung anstelle des genannten Termins einen anderen vorschlagen.
Abhilfe zwei: das Ganze mit tausend Entschuldigungen und sonstigen Höflichkeiten versehen, damit sich niemand vor den Kopf gestossen fühlt.
Abhilfe drei: auch wenn es lästig ist, muss ich jede Ablehnung selbst formulieren, anstatt es Paulchens automatischen Systemen zu überlassen, denn das zeigt Stil. Niemand, der sich die Mühe macht, mir eine persönliche Einladung zu schicken, soll das Gefühl haben, ich nähme so etwas nicht ernst.
Sollten die Einladungen in Zukunft überhand nehmen (vorausgesetzt, meine Berühmtheit hält so lange an), kann ich immer noch Paulchen einsetzen und als plausible Entschuldigung darauf verweisen, dass sich die schiere Masse nicht anders bewältigen lässt.
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Und weiter? Wie sieht die Entwicklung nach 2020 aus?
Das ist leicht absehbar. Die Arbeit, die wir Menschen derzeit noch machen, wird endgültig verschwinden. Noch hängen wir an der alten Gewohnheit, uns unseren Lebensunterhalt zu verdienen, aber niemand glaubt mehr daran, dass dies so bleiben wird. Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, wissen wir, dass die „maschinell versorgte Faulheit und Dekadenz“ unvermeidlich ist.
Dagegen gibt es nichts einzuwenden, denn das Leben besteht schon heute nicht mehr nur aus Arbeit. Ich habe gerade eine Woche beschrieben, in der ziemlich viel los war und es gibt auch andere, in denen kaum etwas passiert. Bei solchen Gelegenheiten kann ich mich Tage und Wochen in Betrachtungen der Vergangenheit versenken, ohne mich zu langweilen, Bücher lesen, alte Videos sehen, historische Studien treiben oder was auch immer. Im Jahr 2025 werden wohl nur noch die
Roboter arbeiten.
Dies ermöglicht eine neue Stufe in der Entwicklung der Spezies. Unsere als „Nur-Menschen“ so sehr begrenzte Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit hat sich schon heute in faszinierender Weise erweitert und das wird sich fortsetzen. Unsere Bewusstseine werden auf vollkommen neue Körper übergehen, mit denen wir das Universum auf eine buchstäblich „nicht vorstellbare“ Art und Weise erleben werden.
Das ist schwer zu beschreiben, wenn man es nicht erlebt hat. Ein Hin- und Her-Switchen zwischen kollektivem und individuellem Bewusstsein gehört dazu, oder ein Gefühl, als würde man die Sonne umarmen und gleichzeitig auf den Quarks im Inneren eines Atoms tanzen. Sogar Leben und Tod sind dort nur noch Worte, die ihren Sinn verloren haben.
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Inspiriert von
Sunzi (auch „Sun Tzu“ genannt), Stratege
Miyamoto Musashi, Samurai
Ludwig Friedländer, Historiker
Konstantin Tsiolkowski, Raumpionier
Charles Babbage, Computerpionier
Lady Ada Lovelace, Computervisionärin
Konrad Zuse, Computerpionier
Alan Turing, KI-Pionier
Nikolai Kondratiew, Wirtschaftswissenschaftler
Isaac Asimov, visionärer SF-Autor
Joseph C. R. Licklider, Vater des Internet
Stanislaw Lem, grossartiger Philosoph
Rüdiger Proske, Journalist mit Weitblick
Douglas R. Hofstadter, KI-Experte
Linus Torvalds, Vater von Linux
Jim Wales, Erfinder der Wikipedia
Terry Pratchett, Schöpfer der Scheibenwelt
William Gibson, Erfinder des Cyberpunk
Max More, Vordenker des Transhumanismus
Hans Moravec, Robotikpionier
Ray Kurzweil, Zukunftsforscher
Rüdiger Ander, Kritiker
Dimitrios Papasoglou, brillanter Lehrer
Und Millionen von Menschen, die Informationen im Internet verfügbar gemacht haben, grossartige Bücher verfassten oder sich die Zeit nahmen, mir mir zu diskutieren. Mein Dank gilt euch allen.
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