Sonntag, 3. Mai 2015

Leben 2020 - Teil 4

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public domain.
Alle Szenarien basieren auf Technik, die bereits existiert.


Freitag
0021 Ich ziehe Maria ins Schlafzimmer und beschäftige sie dort noch fast eine Stunde lang, bevor ich schliesslich in ihren Armen einschlafe.

0705 Wir fliegen nach Hamburg und von dort zu einem unterseeischen Trainingsgebiet in der Nordsee. Unsere Ausrüstung besteht lediglich aus Badekleidung und Schwertern sowie einer Kiemenmaske zur Unterwasseratmung für mich (Maria braucht so etwas natürlich nicht), denn Taucheranzüge und erst recht sonstige Schutzvorkehrungen sind bei der Fechtakademie verpönt.

Maria sieht in ihrem schlichten Badeanzug hinreissend aus. Als sie meinen Blick bemerkt, grinst sie hinterhältig und rekelt sich auf ihrem Sitz wie eine Katze, was so ablenkend ist, dass ich schliesslich meine Hormonsperren einschalte. Nun kann ich ihre Schönheit zwar noch wahrnehmen, aber sie irritiert mich nicht mehr und es ist an mir, sie anzugrinsen.
Aber dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Sie spielt mit mir!
Bei einer menschlichen Frau hätte mich das nicht gewundert, aber Maria ist doch eine Maschine...
Hmmm...
Eine Maschine, die intelligent genug ist, um zu wissen, dass mein Hauptmotiv, sie bauen zu lassen, schlicht Sex war. Alle anderen Funktionen habe ich erst nachträglich in die Bestellung aufgenommen.

Eine Maschine, die auch intelligent genug ist, ohne mich klarzukommen. Sie gehört zwar mir, aber wenn sie den Wunsch verspüren sollte, „frei“ zu sein wie der Roboter Andrew in Asimovs „Bicentennial Man“, dann bin ich viel zu sehr Romantiker, um sie festzuhalten – und das weiss sie auch! Warum bleibt sie trotzdem bei mir?

Sie muss etwas von diesen Gedanken in meinem Gesicht gelesen haben (ich habe darauf verzichtet, mir ein Pokerface zu kaufen) und hebt fragend eine Augenbraue. Ich erkläre kurz und sie lächelt.
„So hat Petronius über eine seiner Sklavinnen gedacht, zumindest nach Sienkiewicz. Aber du machst einen Denkfehler: Wenn Menschen einen Job hinwerfen, dann deswegen, weil er sie nicht befriedigt, weil sie keinen Sinn darin sehen. Wir Maschinen dagegen müssen die Sinnfrage gar nicht stellen, weil wir die Antwort bereits haben, als Teil unseres Betriebssystems. Dich zu begleiten, ist der Sinn
meiner Existenz.“

Mein Mund steht vor Staunen weit offen, dann fällt der Groschen: das Problem der alten Science-Fiction-Roboter war immer, dass ihnen ihre Schöpfer keine Antwort auf die Sinnfrage gaben und dass sie nicht einmal die Möglichkeit einer solchen Frage vorausahnten (was zeigt, wie naiv wir alle waren, dass uns das damals nicht auffiel).
In Wirklichkeit ist es tatsächlich am einfachsten, die Frage schon bei der Erschaffung des Systems im Voraus zu beantworten.

Nun beginne ich zu sinnieren. Man hat mir prophezeit, eine Androidin als Freundin würde langweilig sein, „weil doch alles schon programmiert und damit vorhersehbar wäre“, aber anscheinend hat man dabei etwas übersehen. Menschliche Intelligenz wie auch menschliche Macken sind Epiphänomene,
nicht vorher geplante, aber absolut logische Folgen unserer hochkomplexen Gehirnstrukturen und es scheint, dass sich bei modernen KIs etwas ähnliches herausbildet. Sie sind lernfähig und passen sich ihren Besitzern an, um ihnen bestmöglich zu dienen, denn das war ja der Traum aller Programmierer.

Was dabei am Ende herauskommen würde, wusste niemand. „Nur“ der perfektionierte Sklave – oder eine Symbiose zwischen ebenbürtigen Partnern, die zuvor Unmögliches möglich macht?
Für welche Überraschungen könnten sie noch gut sein...?

0901 Über dem kreisförmigen Trainingsareal springen wir aus einem schwebenden Helikopter ab und tauchen ohne weitere Vorbereitung ins eiskalte Wasser. Ziel ist es, den Gegner innerhalb des abgegrenzten Gebietes zu finden und fünf Treffer im Kopf- und Oberkörperbereich anzubringen. Wenn man dabei eine Wasserpflanze zerstört oder einen zufällig vorbeischwimmenden Fisch aufschlitzt, gibt es Punktabzug.
Zusätzlich erschwert wird die Sache, weil das Areal zwar deutlich
gekennzeichnet ist und jeder vernünftige Skipper es in weitem Bogen umfährt, aber doch immer wieder Menschen leichtsinnig genug sind, sich auf der Suche nach einem besonderen Kick mit Booten oder Jachten hineinzuwagen. So gern man diesen Leuten auch ein kaltes Bad verschaffen würde, man darf es nicht. Im Idealfall bekommen sie einen gar nicht erst zu sehen und müssen enttäuscht wieder abziehen, weil das Pluspunkte für gute Tarnung einbringt.

Wie sich das Kämpfen in dieser Umgebung anfühlt? Nun, als Musashi im 17. Jahrhundert das „Go rin no sho“ verfasste, im Westen bekannt als „Buch der fünf Ringe“, kritisierte er die Mätzchen anderer Schwertkampfschulen wie die „fliegenden Füsse“, „hüpfenden Füsse“, das wilde Gefuchtel mit diversen Schwertpositionen und was dergleichen mehr war. Er lehrte, sich einen festen Standpunkt zu suchen und das Schwert mit eher sparsamen Bewegungen zu führen.

Der Mann wusste, wovon er sprach! Schon an Land ist es, wie er treffend sagte, „auf unebenem Boden kaum möglich, zu hüpfen oder zu springen“ und unter Wasser gilt das um so mehr.
Es ist übrigens kein Zufall, dass wir japanische Waffen und japanische Kampfkunst verwenden. Keine andere Blankwaffe der Menschheitsgeschichte ist so ausgereift wie das Katana und nach Prüfung aller Informationen fand ich auch keinen besseren Einzelkämpfer als eben Musashi, den legendären Samurai, den man mit dem Titel „Weiser des Schwertes“ geehrt hat.
Es dauert exakt dreizehn Stunden und 57 Sekunden, ohne dass ich in dieser Zeit auch nur eine Minute Ruhe habe oder einen Bissen zu essen bekomme und als wir schliesslich an Land zurückkehren und ein Hotel aufsuchen, fühle ich zum ersten Mal seit langem wieder echte körperliche Erschöpfung. Nach einem köstlichen Abendessen sinojapanischer Zusammensetzung schlafe ich wie ein Stein.

Samstag
0500 Ein Vormittag relativer Ruhe. Heute nehme ich mir die Zeit, das bisher Gelernte zu verarbeiten und in meinen Brainchips Simulationen ablaufen zu lassen, die die geübten Szenarien variieren. Nachdem ich einmal gespeichert habe, was physisch möglich ist, kann ich auf dieser Grundlage weiterrechnen und mein Verhalten im Kampf jeder beliebigen Umgebung anpassen.

Während ich das tue, fahren wir mit dem Transeurasia-Express von Hamburg zum Raumhafen Baikonur, von wo es zur letzten Trainingsstation geht, dem Tsiolkowski-Raumhabitat. Kämpfe bei Null-G sind die ultimative Herausforderung.

Fahren? Ja. Natürlich könnten wir auch via Zubringerjet mit Mach 10 hinfliegen, aber das wäre sinnlos, weil ich eine derart rasche Aufeinanderfolge von Extremsituationen nicht verkraften würde.
In unserem Privatabteil (Melbar ist mit den Spesen grosszügig) nehmen wir zuerst ein leichtes Frühstück zu uns und dann entschädigt mich Maria dafür, dass mir ihr Luxuskörper am vergangenen Abend entging, weil ich so müde war. Nach einem Schmusestrip sitzt sie in der Pose des Schwebenden Schmetterlings auf meinem Gesicht und lässt mich ihre Lustgrotte schmecken, bis ich glaube, vor Seligkeit vergehen zu müssen.
Dabei laufen die Kampfsimulationen in meinem Hinterkopf ununterbrochen weiter.

1335 Da es heutzutage keine Zollkontrollen mehr gibt, sind wir nach wenigen Stunden auf russischem Gebiet und bestaunen die „heulende Wildnis“ zu beiden Seiten der Gleise. Russland war nie sehr dicht besiedelt und nach dem Bevölkerungsrückgang seit den 1970er Jahren sind riesige Landstriche zum Naturzustand zurückgekehrt. Wir sehen ein Wolfsrudel – prachtvolle Exemplare darunter – Pferdeherden, die sich aus verwilderten Tieren entwickelt haben,
geklonte Kurzfell-Mammuts und sogar sibirische Tiger. Besonders die letzteren erregen meine Bewunderung. Ihre Kraft und Schönheit sind seit Jahrhunderten legendär und jetzt verstehe ich den Grund dafür.

1900 Baikonur, Kasachstan. Wir kommen rechtzeitig, um eines der im Stundentakt abhebenden robotischen Weltraumtaxis zu erwischen.
Auch hier hat sich einiges getan, seit das „Space Ship One“ im Jahre 2004 den Ansari X-Prize gewonnen hat und 2006 die ersten privaten Transportraketen starteten. Angeregt durch diese Erfolge wie auch durch den Aufstieg der damals noch jungen Raumfahrtnationen China und Indien, entwickelte sich die Raumfahrtindustrie so weit, dass heute Urlaub im All als Pauschal- oder Individualreise angeboten wird. Raumhabitate nach Prinzipien, die der grosse Tsiolkowski schon im 19. Jahrhundert entworfen hat, kombiniert mit moderner Technik, bieten alle Annehmlichkeiten, die
man sich nur vorstellen kann. Urlaub auf der Erde ist zwar billiger, aber ein Zimmer mit Aussicht auf die Erde ist jeden Cent wert, den man dafür bezahlt.

Einen von der Erde zur Station führenden „Weltraumlift“ haben wir dagegen nicht gebaut, weil es für Orbitaltransporte genügt, mit Shuttles zu fliegen. Eine Station, die sich nicht im Orbit befindet, sondern 36'000 Kilometer weit draussen, ist etwas anderes, da wäre der Lift eine nützliche Sache. Die Roboter arbeiten daran.
Ironischerweise war es einfacher, ein Habitat im freien Raum zu konstruieren als ein Mondhotel. Das liegt daran, dass eine Raumstation durch ihre Drehung die normale Schwerkraft simulieren kann, was auf dem Mond unmöglich ist. Daher überlassen wir den Erdtrabanten einigen tausend Extremurlaubern, einer Handvoll Robotern, die Rohstoffe abbauen und einigen Aussteigern, die dort eine autonome Kolonie errichten wollen. Die Erde braucht die Ressourcen ihres Mondes so wenig, dass alles dort geförderte Helium-3 mit Ausnahme des lunaren Eigenverbrauchs auf den Mars geschickt wird, wo weitere Roboter ein schlüsselfertiges Habitat errichten.
„Ach, ihr habt die kontrollierte Kernfusion?“ Natürlich haben wir sie, das war sogar ganz einfach, nachdem die Maschinen ihre überlegene Intelligenz einige Stunden lang auf die Frage konzentriert hatten.

Nach der Ankunft begeben wir uns in die Null-G-Trainingsareale im Zentrum. Die Karten des Habitats haben wir bereits beim Flug in unsere Brainchips geladen und mein aufgerüsteter Metabolismus sorgt dafür, dass ich trotz der wechselnden Schwerkraftverhältnisse nicht raumkrank werde (Maria hat dieses Problem ohnehin nicht), so dass das Training direkt weitergehen kann. Zuerst eine Stunde ohne Kampf, um die Bewegung in Zonen mit verschiedener Schwerkraft zu üben,
dann ziehen wir wieder blank.
Ähnlich wie unter Wasser hat auch der Nahkampf in der Schwerelosigkeit beinahe tänzerische Qualitäten. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, schwebt man mit atemberaubender Eleganz, wie einst Raumstationen und Raumschiffe in Stanley Kubricks „2001“ im Walzertakt durchs All glitten.
Ich probiere diese Idee aus und lasse die KI des Habitats den Donauwalzer einspielen, während wir einander mit den Schwertern jagen. Ein fantastisches Erlebnis!

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