Montag, 25. Februar 2019

Kräftemangel


Kräftemangel

Ein Softwarebot muss genügen

Noch immer wird als Schreckensszenario ausgemalt, dass Maschinen den Menschen die Jobs wegnähmen. In der Realität wären viele Leute froh, wenn es solche Maschinen gäbe, denn die Kräfte der Menschen reichen längst nicht mehr.

Von: Klaus Gieg 




Stellenausschreibungen überall 
Quelle: eigenes Werk des Autors 


Wo wollen Sie die Leute denn noch hernehmen?“, fragt Mister X und breitet resigniert die Arme aus. „Das Potenzial aus der Zuwanderung ist erschöpft und die Roboter sind noch lange nicht gut genug. Fazit: die Bedürfnisse der Menschen werden nicht mehr bedient.“

Der Analyst, der seinen wirklichen Namen nicht genannt wissen will, verweist darauf, dass die Vergreisung Deutschlands und der daraus resultierende Mangel an Arbeitskräften keine Geheimnisse seiner Zunft sind, sondern seit den 2000ern öffentlich diskutiert werden. „Im Jahr 2017 konnte man bei Wirtschaftswoche Online lesen, dass das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland 2018 sein Maximum erreichen würde. Man hat nur nicht gewagt, auch die Folgerung hinzuschreiben, nämlich dass es am Tag nach diesem Peak zu schrumpfen beginnen würde.“
Genau das aber passiert seit jenem „Tag danach“, jeder arbeitsfähige Mensch in Deutschland, der etwa bei einem Verkehrsunfall stirbt oder von den Nazis aus dem Land gejagt wird, hinterlässt eine offene Stelle.

Dies befeuert eine weitere Entwicklung: Die „Flexibilität“, welche Manager seit den 1990ern gebetsmühlenartig einfordern, wendet sich gegen sie, jeder auch nur halbwegs Qualifizierte kann jederzeit ein besseres Angebot finden. Was Wunder, wenn sogar Zeitarbeitsfirmen, einst ein Synonym für Ausbeutung, schon Stundenlöhne bis zu elf Euro zahlen?
Im internationalen Rahmen zeigt sich die Flexibilität ebenso drastisch: Seit einigen Sommern klagen deutsche Bauern darüber, dass ihnen die Ernte auf den Feldern verfault, weil die Erntehelfer aus Osteuropa ausbleiben. Nur die Ursache – „Deutschland ist nicht mehr attraktiv genug“ – wagt niemand auszusprechen.

Dass es hierzulande Menschen gibt, die für den Mindestlohn arbeiten, liegt nicht daran, dass der so toll wäre, sondern dass die Leute so verzweifelt sind. Die soziale Spaltung verläuft zwischen denen, die für die moderne Welt qualifiziert sind und allen Anderen. Die herkömmliche Definition von „Geringqualifizierten“ als Leute, die maximal einen Realschulabschluss haben und keine Berufsausbildung, reicht zur Beschreibung der modernen Welt nicht mehr aus, denn in der selben Situation finden sich auch Menschen mit Ausbildung und 30 bis 40 Jahren Berufspraxis, die noch einmal komplett umlernen, weil die Not sie dazu zwingt. Ihre Qualifikationen aus früheren Jahrzehnten sind wertlos geworden, ein Abschlusszeugnis von beispielsweise 1980 oder 1990 kann man wegwerfen.

Früher gab es ein Liedchen „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an – mit 66 Jahren, da hat man Spass daran...“; heute müsste es heissen „Mit 66 Jahren fängst du im Callcenter an“, denn das ist der letzte Ausweg derer, denen die Rente nicht reicht und die weder Ahnung von Netzwerktechnik haben noch Chinesisch sprechen. Dort treffen sie dann auf Jüngere, deren Qualifikationen ähnlich niedrig sind und die zusätzlich eine miserable Rechtschreibung haben.
Selbst beide Arten von Verzweifelten zusammen sind allerdings zu wenig Leute, um alle derartigen Stellen zu besetzen, auch wenn man also jeden Geringqualifizierten und jeden Rentner im Lande „aktivieren“ würde, blieben Lücken.
Noch dazu ist die Situation nicht statisch: Sobald die Leute verstanden haben, dass sie im eigenen Interesse etwas dazulernen sollten und das auch tatsächlich tun, sind sie eben keine „Geringqualifizierten“ mehr und können sich ihre Jobs erst recht aussuchen.

Eine Firma, die bei alledem nicht mithalten kann, kriegt ihren Kundendienst nicht mehr hin, Aufträge werden nur noch verzögert ausgeführt oder gar nicht erst angenommen, was unter anderem dazu führt, dass Hunderttausende von Bauvorhaben, die schon behördlich genehmigt sind und für die das Kapital bereit steht, einfach liegen bleiben.

Bei öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Ergebnis ebenso simpel: Busse und Strassenbahnen fallen aus, mit allen Folgeschäden und -kosten für die Passagiere und sich darüber auf Facebook zu empören, bringt nicht einen einzigen Menschen dazu, sich bei den Verkehrsverbünden zu bewerben.

Auch der bestenfalls schneckenlahm stattfindende Ausbau von Breitband-Internet und 5 G-Mobilfunk, mit dem sich Deutschland Monat für Monat vor der Welt blamiert, geht auf den Kräftemangel zurück. Das führt ausserdem dazu, dass deutsche Firmen bei der Digitalisierung als Ganzes weit hinterher hinken, Softwarebots, die die Menschen entlasten, werden erst mit jahrelanger Verzögerung eingeführt und die Geschwindigkeiten bei der Datenübertragung, die diese Bots zur Kommunikation untereinander und mit den Datenbanken benötigen, sind kaum vorhanden.
Es wurde schon beklagt, dass China fortschrittlicher sei als Deutschland, was vor diesem Hintergrund nicht verwundert. Wenn die Daten nicht schnell genug fliessen, kann man nur zurückfallen und die dadurch entstehenden Schäden verstärken sich gegenseitig.


Immer weniger Kräfte

Es gibt auch keine Aussichten, dass in den nächsten Jahren mehr Menschen nachwachsen, sondern die Bevölkerung schrumpft, Kindergarten um Kindergarten und Schule um Schule schliessen quer durch alle Bundesländer, so dass mittlerweile Zehntausende von Ausbildungsplätzen wie sauer Bier angeboten werden und sie doch niemand haben will.
An den Universitäten das selbe Bild, die Zahl der Erstsemesterstudenten stagnierte in 2016 und sinkt seit 2017. Stiftungen zur Begabtenförderung werden ihre Gelder nicht mehr los und werben daher seit Jahren um Kandidaten, eine Revolution für dieses früher diskret betriebene Geschäft, aber der Erfolg ist gering, denn mit immer weniger Menschen insgesamt gibt es auch immer weniger Begabte.

Auf mehr Zuwanderung zu setzen, ist ein Selbstbetrug, denn die Zeiten der Bevölkerungsexplosion sind längst vorbei. Medial und politisch herbeigehetzte Angst vor Flüchtlingen verdeckt den Blick darauf, dass die Weltbevölkerung kaum noch wächst und ab den 2020ern schrumpft. Erinnern Sie sich noch an die Prognosen von 9 Milliarden Menschen? Gar 10 oder 12 Milliarden? Vergessen Sie es, schon die acht Milliarden werden wir niemals erreichen.

In vielen Publikationen ist darauf hingewiesen worden, dass das Wachstum der Städte in der sogenannten „Dritten Welt“ sich abgeschwächt hätte und das ist noch vorsichtig ausgedrückt, denn in Wirklichkeit hat es aufgehört. Schauen wir etwa nach Iran: Die Dörfer haben sich längst geleert, die Geburtenrate ist niedriger als in Deutschland und die jungen Männer sterben in Syrien oder gleich zu Hause im Kampf gegen das eigene Volk, von einer wahnsinnigen Regierung in den Tod geschickt. Wo sollen da noch mehr Menschen herkommen?

In 2018 wurden als potenzielle Rekrutierungsgebiete für EU-Staaten die subsaharischen Länder sowie Indien und Pakistan diskutiert. Damit wurde stillschweigend eingestanden, dass Ost- und Südosteuropa leergecastet sind, das Schrumpfen der russischen Bevölkerung ist unterdessen schon eine Binsenweisheit.
Inder und Pakistaner können allerdings auch zu Hause schuften bis zum Umfallen, brauchen sich also nicht erst in Deutschland zu bewerben und in Afrika ist gerade ein gigantischer Wirtschaftsaufschwung angelaufen, die „Löwenstaaten“ folgen dem Vorbild der asiatischen Tigerstaaten und bieten den Menschen vor Ort eine Perspektive.


Den Mangel umverteilen

Die Folgen sind in Deutschland spürbar: 2017 sank die Zahl der Asylanträge, um dieses Reizwort auch einmal einzubringen, auf gerade noch 187'000 und in 2018 noch weiter auf 130'000. Selbst wenn sie alle genehmigt worden wären und diese Menschen tatsächlich in Deutschland blieben, würde das nicht einmal reichen, um den Sterbeüberschuss hierzulande auszugleichen.

Die Not hat Einiges in Bewegung gebracht, so sollen verschiedene Massnahmen etwa den Bundesfreiwilligendienst attraktiver machen, andere die Pflegeberufe, man wirbt öffentlich um Lehrkräfte wie auch um Justizbeamte und mit dem „Qualifizierungschancengesetz“ wurde Ende 2018 die generelle Notwendigkeit von Weiterbildung unterstrichen und zusätzliche Gelder dafür bereitgestellt. Das alles vollbringt keine Wunder, aber es ist vernünftig – sogar vernünftiger, als man deutschen Politikern noch zugetraut hätte.

Sicher gibt es Menschen, die von alledem nicht erreicht werden. Sie hören nicht einmal mehr zu, wenn von Umschulung die Rede ist und wursteln sich durch mit einer Mischung aus Hartz IV, öffentlichen Tafeln, Betteln am Bahnhof und dem Durchwühlen von Mülltonnen. Aber diese Leute sind ungeachtet ihrer medialen Präsenz eine Minderheit, die Mehrzahl der Menschen will lernen und tut dies bei jeder Gelegenheit.

Mehr Leute freilich schafft keine Massnahme je wieder herbei. So lange also die Kräfte der Menschen begrenzt bleiben und die der Maschinen noch zu gering sind, ist die Personaldecke nicht nur hier oder dort zu kurz, sondern überall und man kann die Leute bestenfalls von einem Brennpunkt zum anderen werfen.


Was bedeutet das für die Zukunft?

Die Dörfer, schon heute unattraktiv, sterben vollends aus und verfallen, bis es auf dem Land höchstens noch die eine oder andere Urlaubseinrichtung gibt, parallel schrumpfen die Städte. Wirtschaftswachstum jedoch, die Religion unserer Zeit, ist auf das Wachstum der Bevölkerung angewiesen, denn immer weniger Menschen kann man nicht immer mehr Dinge verkaufen. Seit der grossen Pestepidemie im 14. Jahrhundert hat es ein solches Szenario nicht mehr gegeben und die Wirtschaftswissenschaften müssen Modelle und Theorien, die zu dieser neuen Realität passen, erst noch entwickeln.
Eine Parallele lässt sich schon jetzt erkennen: der damalige wie heutige Mangel an Arbeitskräften führte zu radikal steigenden Löhnen und man suchte Hilfe in der Technisierung – damals war das zum Beispiel der Buchdruck. Diese Lösung jedoch barg Potenziale in sich, die nicht einmal ein Gutenberg ahnte und diese führten dazu, dass man nicht mehr im Mittelalter stehenbleiben konnte, wie es viele wollten, sondern die Neuzeit über die Menschen hereinbrach.

Dies also ist die Dimension, in der wir denken müssen, wenn wir uns auf die nächsten Jahre vorbereiten. So langsam die Digitalisierung hierzulande auch verläuft, sie geht weiter und im Zusammenwirken mit dem Bevölkerungsschwund verändert sie die Dinge immer mehr:
- Der Einzelhandel verschwindet. In den letzten fünfzehn Jahren ist in ganz Europa kein einziges neues Kaufhaus mehr eröffnet worden, aber Tausende geschlossen und im Jahr 2030 werden sie nur noch eine Erinnerung sein. Ebenso schliessen kleinere Läden, der Beweis ist in jeder Fussgängerzone sichtbar.
- Den Banken geht es ebenso, Filliale um Filliale schliesst und ihr viel beschworenes „Kerngeschäft“ wird von den FinTechs assimiliert.
- Die Textilbranche verzeichnet seit 2016 Insolvenz auf Insolvenz, weil der Markt übersättigt ist und der technische Fortschritt die Nachfrage nach Kleidung effizienter bedient als klassische Methoden. Man bedenke: Mit Apps, die individuelle Designermode für jeden Nutzer kreieren und damit verbundenen Nährobotern, die jedes derartige Einzelstück on demand produzieren, haben wir noch gar nicht richtig angefangen. Keine einzige Modefirma wird diese Entwicklung überleben und damit im Zusammenhang verschwindet das gesamte Modelbusiness.
- Fortgeschrittene Softwarebots und Sprachassistenten löschen die Callcenterbranche aus.
- Mit der Steinkohle ist es bereits vorbei und der Siegeszug der Solarenergie wird auch die Braunkohle eliminieren, 2030 ist sie nicht nur in Deutschland Vergangenheit, sondern global.
- Fernsehsender haben keine Chance mehr, denn das Medium Fernsehen verschwindet. Mag also Deutschland als die verspätete Nation seine „öffentlich-rechtlichen“ Zombies noch so lange mit Geld füttern, es kann ihren Untergang nicht aufhalten.
- Nur ein Witz, den aber viele bitter ernst nehmen, ist dem gegenüber die neue Herausforderung an die Feministinnen, die nun darüber streiten, ob sie ebenso gegen biotechnische Brustvergrösserungen, Schamlippenverkleinerungen usw. sein sollen wie gegen chirurgische. Sie werden sich in einer Allianz mit plastischen Chirurgen wiederfinden, die ihre Felle davonschwimmen sehen.
- Sonnenstudios gehen bankrott und die Kosmetikbranche wird ihre Selbstbräuner nicht mehr los, weil Gentherapien auch zur Veränderung der Hautpigmente benutzt werden. Eine einzige derartige Spritze genügt, um dauerhaft eine braune Haut zu bekommen.
- Der Zusammenbruch der Speditionen und Paketdienste aus Mangel an Fahrern wirft die Menschen auf das zurück, was bei ihnen in der Nähe erzeugt werden kann. Hier werden die stetig verbesserten Drei-D-Drucker und Chemikaliendrucker ihre Potenziale entfalten, lange bevor die viel beschworenen autonomen Lkws in Serie gehen.

Durch diese Veränderungen verschwinden in Deutschland schon bis Ende 2020 mindestens eine Million Jobs. Die nun freigesetzten Leute können die eine oder andere Lücke füllen, vorausgesetzt, dass sie bis dahin die nötigen Qualifikationen erwerben. Tun sie das nicht, müssen sie nach dem Verschwinden ihrer bisherigen Branchen erst umlernen und dieser Prozess wird mühsam, natürlich um so mehr, je später sie damit beginnen.

Gleichzeitig wird immer mehr Arbeit nicht gemacht, das bedeutet immer mehr nicht erfüllte Bedürfnisse und eine neue Form von Zweiklassengesellschaft: Von Menschen bedient zu werden, wird zu einem Privileg für die Reichen und die Normalen können noch froh sein, wenn sie etwa bei Reklamationen mit einem Softwarebot abgespeist werden oder im Altersheim mit einem Pflegeroboter. In vielen Fällen werden sie nicht einmal mehr das bekommen, denn für so viel kluge Software, wie nötig wäre um sämtliche Lücken zu füllen, gibt es in ganz Europa nicht genug Programmierer.

Selbst wenn also die Roboter doppelt so intelligent werden, wie sie heute sind, wird der Zustand eines allgemeinen Kräftemangels mehrere Jahre andauern.


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Nachwort

Der Charakter des „Analysten Mister X“ ist frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig. Dass ich ihn überhaupt eingeführt habe, ist eine Parodie auf den journalistischen Brauch, einen Menschen mit Vor- und Nachnamen als Zeugen für irgend etwas zu präsentieren und dann im Kleingedruckten zu schreiben „Name von der Redaktion geändert“, womit natürlich die Beweiskraft in sich zusammenfällt.

Mit diesem Blogposting beweise ich erstens, dass es keine Journalisten braucht, um solche Artikel zu erschaffen und zweitens, dass solche Artikel überflüssig sind, weil die Informationen, die darin verarbeitet wurden, schon vorher öffentlich zugänglich waren.
Ach ja, drittens beweise ich damit auch meine Fähigkeiten in Rechtschreibung, Grammatik und Formulierungskunst.
Viertens wird man mir natürlich vorwerfen, beim Thema selbst übertrieben zu haben. Seid gewiss, liebe Kritiker: ich habe noch viel zu wenig gesagt, denn kein Einzelner kann das Ganze überschauen. Die volle Wucht dieser hochkomplexen Entwicklung wird euch treffen wie ein Vorschlaghammer.




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